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2. JAHRESZEITLICHE ODER TEMPORÄRE ISOLATION


Der zweite Punkt in der Aufführung der präzygotischen Isolations- und damit Artbildungsmechanismen nach Stebbins war die jahreszeitliche oder temporäre Isolation: "Die Populationen leben in denselben Gegenden, sind aber zu verschiedenen Zeiten geschlechtsreif."

Stebbins selbst kommentiert diesen Punkt 1980, p. 126:

Da sich aber jahreszeitliche Unterschiede von einem zum nächsten Jahr sehr stark verschieben können, ist diese Art der Isolation allein relativ unwirksam, aber sehr wirksam in Verbindung mit anderen Isolationstypen.

Wir haben schon an dem Beispiel der Bach-Nelkenwurz und der Echten Nelkenwurz gesehen, dass diese Isolationsweise auch in Verbindung mit anderen Isolationstypen nicht immer sehr wirksam ist. Die Umkehrbarkeit des Phänomens zeigt, dass neue Arten selbst dann nicht durch ökologische und jahreszeitliche Unterschiede entstehen, wenn Populationen in denselben Gegenden in der Fortpflanzung fast vollständig isoliert sind. Auch bei den besten in der Literatur genannten Beispielen, wie Pinus radiata, P. muricata und P. attenuata, - wobei die Erstere sowohl jahreszeitlich als auch ökologisch-regional von den beiden anderen weitgehend isoliert ist - sind (wenn auch selten) Hybridformen in der Nähe der Monterey Bucht sowie auf der Monterey Halbinsel in Kalifornien gefunden worden (Pinus radiata ist auf milde Winter eingestellt und ihre Pollen reifen schon im Februar, und P. muricata und attenuata sind auf härtere Winter eingestellt und ihre Pollen reifen erst im April).

Wenn wir oben unser Rekombinationsquadrat um einen Faktor für unterschiedliche Termine für die Pollenreife erweitern, wird uns klar, dass wir damit keine neuen Arten geschaffen haben. Im Falle, dass ein solcher Unterschied jedoch polygen bedingt ist, kann man durch Kreuzung alle Rekombinanten zur nahtlosen Überbrückung der Reifezeiten erhalten, womit diese partielle Isolation wieder vollständig aufgehoben wäre.

Wie schnell eine solche Fortplanzungsschranke durch veränderte ökologische Bedingungen tatsächlich aufgehoben werden kann, berichtet zusammenfassend auch Dobzhansky für das Beispiel der Kröten Bufo americanus und B. fowleri 1977, p. 173:

Among many related animal species that differ in breeding season, the toads Bufo americanus and B. fowleri have been studied most carefully (Blair, 1941; Cory and Manion, 1955). Though B. americanus breeds earlier in spring than B. fowleri, the breeding seasons overlap slightly and fertile species hybrids are produced in all probability, what kept the species apart was a combination of seasonal and habitat isolations, mutually reinforcing each other. Bufo americanus prefers to live in forested areas and B. fowleri in grasslands. In territories unmodified by human activities the species are well separated, but the destruction of forests and utilization of land for agriculture has created man-made habitats acceptable for both toad species. As a result, in same places these species have intercrossed and formed intermediate hybrid populations.

Dass Züchter und Wissenschaftler mit dem Ziel, eine solche Fortpflanzungsschranke aufzuheben, in der Regel Erfolg haben, braucht kaum besonders betont werden. Bei meiner eigenen Arbeit mit früh- und spätblühenden Pisum-Mutanten und '-Arten' hat es keine größeren Schwierigkeiten gegeben, diesen Isolationsfaktor aufzuheben. Kein vernünftiger Biologe würde solchen früh- und spätblühenden Mutanten den Status verschiedenen Arten beimessen.

Weder die Biotop-Trennung noch die jahreszeitlich unterschiedliche Geschlechtsreife zweier Populationen reichen zur Bildung neuer Arten aus. Beide Faktoren sind in der Natur häufig durch Hybridpopulationen aufgehoben. Sie können weiter durch veränderte ökologische Bedingungen sowie durch den menschlichen Experimentator aufgehoben werden. Die leichte Reversibilität dieser Isolationsfaktoren spricht gegen die Methode, auf diese Weise getrennte Populationen in den Rang von eigenen Arten zu erheben.

Bei der Behandlung dieser und weiterer Punkte wird auch klar, warum Mayr u.a. in ihrer Speziesdefinition die Alternative von "actually or potentially interbreeding natural populations which are reproductively isolated from other such groups" fallengelassen haben: Entgegen der Zielsetzung der Synthetischen Evolutionstheorie, möglichst viele Arten in statu nascendi nachzuweisen und die aktuelle Dynamik der Artbildung zu demonstrieren, müsste man bei Aufrechterhaltung der Alternative Tausenden von Arten in den verschiedensten Tier- und Pflanzengruppen den Artstatus wieder aberkennen. (Beim morphologischen Ansatz hat man das noch gerne gemacht, um 1. den typologischen Ansatz durch den evolutionistischen zu ersetzen und 2. einen ersten großen Schnitt aus dem z.T. endlosen Chaos der bisherigen Systematik (vgl. Ausführungen zu Hieracium) zu machen. Dass das Letztere nicht geglückt ist, werden wir noch weiter sehen. Und die Artenzahlen werden bei Insekten und anderen Wirbellosen noch wesentlich höher als bisher.) Man würde sich damit vieler Ansätze und Möglichkeiten zur Demonstration der Artbildung berauben, wobei nicht vergessen werden darf, dass mit diesen Ansätzen in der Regel das Fernziel, die Art und Weise der Entstehung sämtlicher Lebensformen ('Makroevolution'), durch zeitliche und räumliche Extrapolation mitanvisiert wird. Präzygotische Isolationsmechanismen gehören danach zu den ersten Schritten auf dem langen Weg von der Art zur Gattung, Familie, Ordnung, Klasse und zum Stamm. Trotz der derzeit lebhaften Debatten um die Bedeutung und den Geltungsbereich von "Gradualismus und Punktualismus" (Stanley 1983; Gould 1980; Hoffman 1982; Stebbins 1982; Stebbins und Ayala 1981 u.v.a.), betont auch die neue evolutionistische Richtung die große Bedeutung der Mayrschen Artbildungsfaktoren für ihren Ansatz (rasche Divergenz in kleinen Randpopulationen, wobei neue ökologische Nischen für die Entwicklung eine Schlüsselfunktion einnehmen). Die reproduktive Isolation dieser Randpopulationen von den großen Ausgangspopulationen spielt dabei eine überragende Rolle (Stanley 1979, 1983). Nach Stanley (1983, p. 94) ist Mayr sogar der erste Biologe, der die 'moderne punktualistische Evolutionsauffassung' vertreten hat. Da die reproduktive Isolation sowohl für den Gradualismus als auch für den Punktualismus einen besonderen Stellenwert besitzt, betrifft eine sachlich-berechtigte Kritik der Isolationsmechanismen als Artbildungsfaktoren beide Theorien.


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