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SOZIALDARWINISMUS UND EUGENIK

Zum Thema Sozialdarwinismus, eine andere Variante der Anwendung Darwinscher Theorien auf den Menschen, - nun aber unter besonderer Berücksichtigung und Anwendung der Selektionstheorie und bis zur letzten (unmenschlichen) Konsequenz in den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus durchgeführt - sollen uns hier nur zwei entscheidende Punkte interessieren: 1) Inwiefern sind die Mendelschen Befunde für eine Eugenik interessant? 2) War die Übertragung der Evolutionsfaktoren auf den Menschen von der Darwinschen Theorie her gerechtfertigt?

Zu Punkt 1) sei hier festgestellt, daß eugenische Praktiken zur 'Verbesserung des Erbguts' einer Bevölkerung häufig an einem wesentlichen Befund Mendels vorbeigegangen sind (Heterozygotie und Spaltung): Man kann weder mit Sterilisation noch mit Mord die "genetische Bürde" (Muller) beseitigen. Denn nach den Ergebnissen der heutigen Forschung tragen wir praktisch alle in unserem Erbgut heterozygot ein bis mehrere Letalfaktoren sowie mehrere stark nachteilige Allele ("annähernd ein bis acht schädliche Gene", Strickberger 1988, p. 778) - und zahlreiche geringfügig nachteilige Allele sowieso. Die letzteren können haüfig sowohl hetero- als auch homozygot vorliegen. Es ist unter anderem die genetische Bürde, die Verwandtenehen nicht ratsam erscheinen läßt. Darwins Verbindung mit seiner Cousine Emma Wedgewood scheint dafür ein Musterbeispiel zu sein. G. Himmelfarb berichtet über den oft bedauerlichen Gesundheitszustand der Darwin-Familie nach einem Kommentar von Erasmus zur Entscheidung von Darwins Sohn Frank, das Medizinstudium aufzugeben und seines Vaters Assistent zu werden (Zitat: "After all he is a Darwin, and the chances are against any of our unfortunate family being fit for continous work", 1959, p. 137):

"The dread of hereditary ill health was not entirely illusory...of his ten children one girl died shortly after birth, another, the much beloved Anni, died in childhood, his youngest son Charles was a mental defective who lived only two years, Henrietta had a serious and prolonged breakdown at fifteen, and three sons suffered such frequent illness that Darwin regarded them as semi- invalids."

D. W. Patten erwähnt (1966, p. 242), daß Darwin (zumindest vorübergehend) "inbreeding" für den weiteren evolutiven Fortschritt lehrte: "When his youngest sister Caroline also decided to marry a cousin in 1838, Darwin was not only glad, but also gave his authoritative biological approval. Today neither one of these marriages would be allowed by law." Später hat Darwin sich mit der "inbreeding"-Thematik sehr intensiv auseinandergesetzt. "With four first-cousin marriages in his generation of Darwin-Wedgewoods, the question was personal." Ergebnis: "For plants or marriages, outbreading was best" (Desmond and Moore 1992, p. 575 und p. 619).

Im Gegensatz zu dem, was Darwin mit seinen Ideen zum Überleben des Tauglichsten und der Selektionstheorie lehrte (siehe das Textbeispiel in der Einleitung), war er ein fürsorglicher Vater, der um das Wohlergehen seiner Familie ernstlich besorgt war und der unter anderem seine Söhne laufend ermahnte, sich nicht zu überarbeiten.*

Zu Punkt 2): Von den heutigen (Neo-)Darwinisten wird diese Frage vehement verneint. Selbst Darwin würde heute einen solchen Mißbrauch seiner Theorie aufs schärfste verurteilen. Man muß hier jedoch zwei Fragen klar auseinanderhalten: einmal die Frage nach dem Charakter eines Forschers und zum anderen die möglichen Folgerungen aus seiner wissenschaftlichen Theorie. Die Antworten auf diese Fragen müssen nicht kongruent sein. Es hat jedenfalls meines Wissens noch kein Neodarwinist die Frage zufriedenstellend beantwortet, warum die (vermeintlich) eindeutigen naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die die Vielfalt und Komplexität lebender Organismen, einschließlich des Menschen, hervorgebracht haben sollen, - auf welche in der heutigen Biologie alle Höherentwicklung, Vervollkommnung und Anpassung zurückgeführt werden, nun grundsätzlich nicht mehr zur weiteren Höherentwicklung des Menschen in Betracht kommen sollen.

Von Verschuer, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin von 1942-1945, versucht seine EUGENIK (1966) folgendermaßen zu rechtfertigen:

(p.20:) "Es wird heute nicht mehr ernsthaft bezweifelt, daß der Mensch in die evolutionistische Entfaltung des Lebens miteinbezogen ist. Man hielt es deshalb für durchaus folgerichtig, die Erkenntnisse der allgemeinen Evolutionstheorie auch auf den Menschen zu übertragen." (p.15:) "Die Galtonsche Eugenik ist aus der Darwinschen Selektionstheorie hervorgegangen...Galton hatte schon 1865 die Folgerungen für den Menschen gezogen und den Grundstein für seine Eugenik gelegt. Im Mittelpunkt dieser Eugenik steht die Selektionstheorie."

Wenn die Evolutionsfaktoren, die zum Menschen geführt haben sollen, bekannt wären, dann müßte der wissenschaftlich orientierte Homo sapiens auch etwas für seine eigene Weiterentwicklung tun können, bzw. in der Lage sein, Fehlentwicklungen entgegenzusteuern. Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie der Wissenschaftsgeschichte, daß die Eugenik, die sich letztlich auf Darwin beruft, aufgrund der genetischen Konstitution der Darwins ("the dread of hereditary ill health" etc.) eine Fortpflanzung dieser Familie höchstwahrscheinlich für wenig ratsam gehalten hätte und Charles Darwin damit erst gar nicht geboren wäre.

Kritische Auseinandersetzungen zu dem Themenkreis finden sich z. B. bei H. Conrad-Martius (1955), Gould (1981), W. Kuhn (1982); man vgl. auch die erschütternden Urkunden bei Mitscherlich und Mielke (1949). Weiter sind einige Stellen bei Nachtwey (1959), Clark (1967), Vogel und Motulsky (1979), Illies (1981), sowie die ausführlichen Darstellungen von Kröner et al. (1994) sowie von Benno Müller-Hill (1988, 1992) von Interesse - siehe auch zahlreiche weitere Literaturhinweise im www. Scope Note 28: Eugenics: BIBLIOGRAPHY. Table of Contents. Eugenics: General, Eugenics: United States, Eugenics: Germany etc.: http://www.csu.edu.au/learning/ncgr/gpi/grn/edures/scope.28.html (1997) in diesem Zusammenhang von Interesse.

Wir wollen hier nur feststellen, daß 1. durch die Mendelschen Befunde (dominant-rezessiver Erbgang, Spaltungsgesetz) und 2. bei Erweis der Unzulänglichkeit der heutigen Abstammungslehre für die entscheidenden Fragen nach dem Ursprung der Lebensformen, ein großer Teil eugenischer Spekulationen und Praktiken bis hin zu den Exzessen im 3. Reich - (und was sich nicht nur im 3. Reich zu dieser Thematik abgespielt hat, kann über weite Bereiche nur noch in die Kategorie der "Gewaltkriminalität" eingestuft werden) - der naturwissenschaftlichen Grundlage entbehrt.

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*R.E.D. Clark gibt jedoch 1967, pp. 120/121 zu diesem Punkt Folgendes zu bedenken: "It is true that Darwin did not himself carry his theories of struggle into practice, but was a kindly man and a good father. It is largely this fact that has for so long preserved his memory from criticism. But the moderns cannot have it both ways. For a long time now the world has been only too full of rich men who draw large incomes from the white slave traffic, from exploitation of natives in mines and factories, from selling arms to small nations after deliberately stirring up war and so on. Such men are often clean living and kindly in their private lives and make excellent fathers. For, as Christ pointed out, even evil men know how to give good gifts to their children. Such people are, however, generally regarded as execrable hypocrites by left-wing sympathizers, particularly if (as is, no doubt, occasionally the case) they make profession of Christianity. Yet Darwin (and Spencer, too, for that matter), who made substantial sums of money by the sale of books which spread an immoral and false philosophy, is regarded as immune from criticism because of his private life. And this, despite the fact that he probably did as much harm as all the private manufacturers of armaments ever did and, even, provided them with a philosophy to justify their ways. Clearly no half measures are permissible. Either we may condemn Darwin, together with all others who have profited by the misery they have caused to others, or else we may judge people by their private lives alone and think charitably of all men. It will not do to pick and choose."


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