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C) VERGLEICHENDE MORPHOLOGIE

R. E. Blackwelder, "distinguished coleopterist", Mitbegründer und 1952 Herausgeber der Systematic Biology (auch Verfasser des Guide to the Taxonomic Literature of Vertebrates, 1972) beschreibt die Wirkung der Darwinschen Evolutionstheorie auf die Morphologie wie folgt (1962, p.2):

"Accordingly, the morphologists experienced a revolution. Their work was given direction and a definite goal, and they spent nearly half a century to unravel evolution by means of structure. It has often been forgotten that this effort ended in failure. Anatomy and embryology were not able to explain or prove evolution, even after the fields became largely experimental, because they were trying to infer from static phenomena (the intimate structure of the body) the dynamic relations in a course of events (organic evolution). This was a hopeless task, an was pointed out by Raymond Pearl, in spite of the fact, that it was bolstered by certain plausible ideas that were mistaken for natural laws. Among these was the idea of ontogenetic recapitulation of phylogeny and the belief in an objective basis for homology. It would be doubtless more accurate to say that the search for morphological proof of evolutionary theory was the result of belief in these things."

Und das heißt ja nichts anderes, als daß der ganze ungeheure Aufwand an Arbeit und Zeit nicht zum evolutionstheoretischen Ziel geführt hat. Ich möchte das an einigen Beispielen näher veranschaulichen: Von W.-E. Reif ist 1982 eine detaillierte Studie zur Evolution des Dermalskeletts und der Bezahnung bei den Wirbeltieren erschienen. In seiner Einleitung heißt es (p. 287):

"The starting point of comparative evolutionary studies of the dermal skeleton of vertebrates is Hertwig's series of papers (1874, 1876/1879/ 1882), which directly stimulated many dozens of papers, most of them in German and some of them long forgotten. The literature on comparative histology and histogenesis of the dermal skeleton and on regulatory and morphogenetic processes of the vertebrate integument is so voluminous that it can hardly be summarized. Ever since Hertwig, attempts have been made not only to contribute descriptive and experimental data, but also to arrive at a synthesis. Most of the synthetic papers, however, address only a small section of the theoretical problems, and it seems that some important questions have never been asked.

In this paper I propose a model of the evolution of the dermal skeleton based on phylogenetic, morphogenetic, histologic, and functional data and considerations. lt is impossible to discuss in detail here the merits of the hypotheses which have appeared in the last 100 years. However, in two review sections relevant observations from the literature are brought together."

Wir wollen jetzt nicht auf biologische Details eingehen, sondern nur feststellen, daß die in der Arbeit entwickelten Hypothesen des Verfassers nun ihrerseits nur teilweise oder gar nicht mit den Hypothesen und Auffassungen von Hertwig (1874, 1876/1879/1882), Goodrich (1907), Gross (1966), Orvig (1951, 1977), Gutmann (1977), Starck (1979) und anderen Autoren übereinstimmen (wie der Verfasser auf Seite 288 und an weiteren Stellen hervorhebt). Der Fortschritt auf den Gebieten der Anatomie und Histologie, der diesen Arbeiten zugrunde liegt, soll damit nicht in Frage gestellt werden. Dennoch haben mehr als hundert Jahre kaum mehr überschaubarer evolutionistischer Hypothesenbildung auf morphologisch-anatomischer Grundlage zu keinem Konsens der Forscher geführt. Entweder sind die meisten bisherigen Ableitungen verfrüht oder die Methodik ist für evolutionistische Ableitungen unzureichend. Neuere Ergebnisse aus der Genetik haben gezeigt, daß morphologisch-anatomische Divergenz keineswegs mit genetischer Divergenz kongruent sein muß (King und Wilson 1975; Kornfeld et al. 1982; Adams et al. 1982 und viele andere; vgl. auch meine Diskussion 1993), so daß selbst bei einem Konsens mehrerer Forscher aufgrund einer für das Ziel (der evolutionistischen Ableitung) unzureichenden Methodik zunächst nur der Konsens mit den Kollegen, aber noch nicht mit der Natur gewonnen wäre. Im übrigen lassen sich anatomisch-histologische Fortschritte auch ohne evolutionistische Hypothesen erzielen, wie weite Bereiche aus der Humanmedizin und Zellbiologie zeigen.

Zwei weitere Beispiele: Archaeopteryx ist in den letzten Jahrzehnten von verschiedenen Paläontologen aufgrund morphologischer Daten (in allen Details begründet) von fünf verschiedenen Reptilgruppen abgeleitet worden (Einzelheiten bei Lönnig 1975) und zur Zeit ist wieder einmal die Saurierableitung umstritten (vgl. Hinchiffe 1997, Burke und Feduccia 1997).

Die Wirbeltiere sind in den letzten hundert Jahren von fast allen Stämmen der Wirbellosen abgeleitet worden (Berril 1955, Shute 1962, Kerkut 1960/1965, Thompson 1967, Wilmer 1990, Nielsen 1995 u.v.a.). Bei unkritischer Fortsetzung dieser Arbeitsweise würden auch noch in hundert Jahren die verschiedensten einander widersprechenden Hypothesen auf dieselben Fragen entwickelt und gegeben werden. Nilsson hat die Situation im Zusammenhang mit der Stammbaumfrage folgendermaßen kommentiert (1953, p.419):

"Während der ersten Jahrzehnte evolutionärer Forschung war es eine sehr beliebte Methode, eine morphologische oder histologische Untersuchung mit einem Stammbaum abzuschließen, durch den man ganz übersichtlich überzeugt werden sollte, wie die betreffende Organismenserie sich paläohistorisch entwickelt hatte. Heute sind solche Darstellungen nicht mehr so beliebt...Der Grund hierfür ist gewiss der, dass es mehr und mehr klar wurde, dass der Stammbaumzeichner gewöhnlich nur sich selbst überzeugte. Denn man fand, dass der nächste Spezialist, der dieselbe Frage behandelte, einen ganz neuen Stammbaum vorbrachte. Und zuletzt erhielt man ebenso viele Abstammungswege, wie es spezialisierte Forscher innerhalb einer Serie gab. Gewiss waren jene auch alle gleich richtig: sie waren Mutmassungen. Denn eine evolutionäre Frage kann nie morphologisch gelöst werden."

Vergl. auch Uschmann (1967), Jahn (1982, p.543), Joysey (ed.) (1982), Illies (1983, pp. 90-121: "Die Wunderwelt der Stammbäume - Baumkunde einer Illusion"), Stevens (1994). Eine Geschichte von allen widersprüchlichen Stammbaumkonstruktionen zu schreiben, wäre wohl ein umfangreiches und wenig fruchtbares Unterfangen. Es soll an dieser Stelle der Hinweis genügen, daß die bis in die Gegenwart reichende immense Arbeit, die in die evolutionistische Interpretation morphologisch-anatomischer Daten geflossen ist, nicht die anfangs erhofften Ergebnisse gebracht hat, So bemerkt z. B. Simpson in seiner Rezension des Buches THE ORIGIN OF VERTEBRATES von Berril über das Ergebnis u.a. (1955, p. 1144):

"Berril's last sentence is, "Proof may be forever unobtainable, and it may not matter, for here is such stuff as dreams are made on." Perhaps this is the last word on the chordate ancestry of the vertebrates. As for the ancestry of the chordates, all is left in darkness without even the dream of 60 years ago."

Kraus kommentiert (1972/1979) dieses Problem, daß aufgrund verschiedener Schwierigkeiten "eindeutige Aussagen noch immer nicht möglich sind und vielleicht auch nie möglich sein werden. Hier sind wiederholt - zuletzt durch Gutmann - überaus geistreiche Theorien entwickelt worden, die sich jedoch ausschließlich auf Ergebnisse der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte stützen müssen." Die unterschiedliche (nicht naturwissenschaftlich objektivierbare) Bewertung morphologisch-anatomischer Strukturen für evolutionstheoretische Möglichkeiten führt zwangsläufig zu unterschiedlichen Deutungen. Der entscheidende Punkt ist dabei, daß diese Bewertungen (experimental-)genetisch nicht abgesichert werden können und damit die Hypothesenbildung auf unzureichender Grundlage geschieht. Abgesehen von einem bis heute nicht behobenen logischen Einwand gegen die Methodik (morphologische Ähnlichkeit = phylogenetische Verwandtschaft, "bewiesen" mit morphologischer Ähnlichkeit) haben neuere Ergebisse der Genetik (siehe oben) die Zweifel weiter verstärkt.

Zur Behauptung oder Erwartung, daß die auf molekularen Daten basierenden Stammbäume nun die objektive und endgültige Antwort liefern könnten, sei an dieser Stelle gesagt, daß die molekularen Stammbäume desöfteren weder mit den morphologischen Stammbäumen (wie zu erwarten), noch mit den paläontologischen Daten, noch unter sich kongruent sind - aber das wäre ein ganzes Kapitel für sich. Vgl. z. B. Patterson (1987): Molecules and Morphology in Evolution: Conflict and Compromise. Vgl. weiter Penny (1988): Evolutionary Trees. What was the first living cell? - Pesole et al. (1991): The branching orders of mammals: Phylogenetic trees inferred from nuclear and mitochondrial molecular data (p. 540: "The problem of which tree, the nuclear or the mitochondrial one, is the more believable remains to be solved." p. 541: "Finally we should not exclude the possibility that both trees may be incorrect. The basic assumption for the molecular clock hypothesis is that substitution rates are uniform in various mammalian lineages. This could be erronous."). - Hasegawa and Hashimoto (1993): Ribosomal RNA trees misleading? - Honeycutt et al. (1995): Mammalian mitochondrial DNA evolution: A comparison of the cytochrome b and cytochrome c oxidase II genes (p. 260: "The phylogenetic inconsistencies observed for both genes may be the result of several factors including differences in the rate of nucleotide substitution among particular lineages (especially between orders), base composition bias, transition/transversion bias, differences in codon usage, and different constraints and levels of homoplasy associated with first, second, and third codon positions"). Kuma et al. (1995): Phylogenetic Position of Dictyostelium inferred from multiple protein data sets (p. 238: "The phylogenetic position of Dictyostelium inferred from 18SrRNA contradicts that from protein data. Protein trees always show the close affinity of Dictyolstelium with animals, fungi, and plants, whereas in 18SrRNA trees the branching of Dictyostelium is placed at a position before the massive radiation of protist groups including the divergence of the three kingdoms." Die Autoren meinen, daß ihre Protein-Befunde den besseren Aufschluß geben.)

Die molekularen Methoden könnten jedoch bei nah verwandten (d.h. nachweislich genetisch miteinander verbundenen) Formen, etwa Mais und Teosinte, zu besseren Ergebnissen führen.

Sollte entgegen aller Erwartungen der meisten heutigen Biologen der "große" Stammbaum (der alle Familien, Ordnungen, Klassen, 'Stämme' und Abteilungen aller Lebensformen 'verbindet') in der historischen Realität gar nicht existieren (Nilsson 1953, Kahle 1984, Junker und Scherer 1992, Lönnig 1971, 1989, 1993, 1995), dann wird der Wert der molekularen Stammbäume den der übrigen kaum übertreffen. Aber selbst wenn dieser Stammbaum - ganz entgegen meiner Auffassung - doch existierte, trifft seine Rekonstruktion auf die oben erwähnten grundsätzlichen Schwierigkeiten, die als historisch-kontingente Unsicherheiten kaum gänzlich auszuräumen sind. - Schließlich sei zu diesem Fragenkreis noch erwähnt, daß man "alles" - auch eine nachweislich nicht genetisch zusammenhängende Formenvielfalt in Form von Stammbäumen darstellen kann (vgl. Nilsson, 1953; Lönnig 1975), d.h. die Möglichkeit der Darstellung beweist noch nicht die Realität der Stammbäume.

Die Weiterführung und Ausschöpfung der Stammbaumkonstruktionen auf den verschiedenen Gebieten könnte jedoch letztlich ein wertvolles wissenschaftliches Ergebnis bringen. Ich vermute, daß - trotz aller Korrektur- und Synthesebestrebungen der verschiedenen Fächer - die Diskrepanzen zwischen den phylogenetischen Gedankenlinien (sowohl innerhalb der Paläontologie, Morphologie und Molekulargenetik als auch zwischen diesen) schließlich so groß werden, daß die evolutionstheoretische Grundlage selbst als unzureichend erkannt und ein neues Paradigma nötig wird - nach meiner Auffassung INTELLIGENT DESIGN . Wir befinden uns demnach jetzt in einer Übergangsphase ganz im Sinne Max Plancks (1971, p. 16): "Vorerst ist festzustellen, daß die beständig fortgesetzte Ablösung eines Weltbildes durch das andere nicht etwa einer Laune oder Mode entspringt, sondern daß sie einem unausweichlichen Zwang folgt. Sie wird jedesmal dann zur bitteren Notwendigkeit, wenn die Forschung auf eine neue Tatsache in der Natur stößt, welcher das jeweilige Weltbild nicht gerecht zu werden vermag."


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