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III. ARTDEFINITIONEN

 

 1. Rauh und Senghas beschreiben 1982, p. 30 den morphologischen Artbegriff, wenn sie die Art folgendermaßen definieren (vgl. auch 1988):

Die Grundeinheit der Systematik ist die Art (species). In ihr werden alle jene Individuen, einschließlich ihrer Vorfahren und Nachkommen, zusammengefaßt, die sich untereinander in allen wesentlichen, erblich konstanten Merkmalen (Man könnte einwenden, dass mit Berücksichtigung von "erblich konstanten Merkmalen" auch beim morphologischen Artbegriff schon ein genetisches Kriterium genannt wird. Der morphologische Artbegriff würde sich jedoch selbst ad absurdum führen, wenn er verschiedene in der Natur auftretende (definitionsgemäß nicht-erbliche) Modifikationen auch noch als eigene Arten führen würde (obwohl das in der Praxis schon vorgekommen ist). Wichtig ist, dass die erblich bedingten Unterschiede nicht quantifiziert werden (weshalb es im Ermessen des Spezialisten liegt, wie viele Arten er im konkreten Fall aufstellt) und dass die Fragen nach Zahl und Wirkung der an den Unterschieden beteiligten Erbfaktoren, nach der Mendelpopulation und Kreuzbarkeit sowie nach primären und sekundären genetischen Barrieren nicht gestellt werden.) gleichen und sich in diesen von anderen, nächstverwandten Arten unterscheiden. Eine Art kann also nur durch Vergleich mit einer anderen erfaßt und abgegrenzt werden. Die Art ist jedoch nicht die kleinste systematische Einheit. Sie kann je nach dem Grad ihrer Merkmalsvariabilität weiter in Unterarten (subspecies = ssp.), Varietäten (varietas = var.) und Formen (forma = f.) unterteilt werden.

 

Zur Aufgliederung von Großarten (Sammelarten, auch als Aggregat bezeichnet) in Kleinarten heißt es p. 31:

Oft liegt es allein im Ermessen des Spezialisten, ob er eine formenreiche (polymorphe) (Sammel-) Art in mehrere Klein- oder Unterarten gliedert.

 

Cronquists Definition lautet (1978, p. 16):

Species are the smallest groups that are consistently and persistently distinct and distinguishable by ordinary means.

 

Wir haben die Anwendung dieses Artbegriffs oben an einigen Pflanzen- und Tiergattungen sowie am Beispiel des Menschen gezeigt. Details folgen bei der Kritik der Artbegriffe.

 

 

2. Von Mayr stammt der Begriff der "biologischen Art" (1940/1963), den wir schon ein paar mal bei unseren bisherigen Ausführungen gebraucht haben:

Species are groups of actually or potentially interbreeding natural populations which are reproductively isolated from other such groups.

 

- so lautete Mayrs Definition aus den Jahren 1940 bis 1963/1967, p. 28.

Im Jahre 1969 lässt er jedoch einen entscheidenden Teil dieser Definition fallen, wenn er schreibt (p. 26):

Species are groups of interbreeding natural populations that are reproductively isolated from other such groups.

 

Zwölf Jahre später bemerkt Mayr zu der ersteren Definition, dass sie noch einige Schwächen aufwies und fährt dann fort (1982, p. 273):

The "actual vs. potential" distinction is unnecessary since "reproductively isolated" refers to the possession of isolating mechanisms, and it is irrelevant for species status whether or not they are challenged at a given moment. A more descriptive definition is: A species is a reproductive community of populations (reproductively isolated from others) that occupies a specific niche in nature. (von den Verfassern kursiv)

 

Diese zunächst vielleicht geringfügig erscheinende Auslassung von "or potentially" bedeutet für unsere Frage nach den Artenzahlen einen Unterschied von mehreren hunderttausend Spezies! Weiter sei hervorgehoben, dass es sich nach dieser Definition um "interbreeding natural populations" handeln muss, d.h. es geht bei dieser Definition nicht um die potentielle Kreuzbarkeit der verschiedenen Formen und der Fertilität ihrer Bastarde, sondern um den einfachen Tatbestand, ob sie in der Natur reproduktiv voneinander isoliert sind oder nicht. Die Ursachen können mechanische, ökologische, ethologische u.a. sein: In allen Fällen reproduktiver Isolierung handelt es sich nach dieser Definition um echte Arten. Die Frage nach der potentiellen absoluten genetischen Barriere spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Zu welchen Schwierigkeiten Mayrs Artbegriff führen kann, wollen wir unten näher erläutern. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Mayrs Definition einen großen Fortschritt gegenüber dem herkömmlichen Artbegriff vieler Systematiker ist, die ohne Zögern jede Gruppe abweichender genetischer Rekombinanten mit einem neuen Artnamen belegt haben.

Sehen wir uns eine Reihe weiterer Artdefinitionen an, die wir im folgenden diskutieren wollen (die ersten beiden Zitate nach Marsh 1976, p. 26):

 

 

3. Simpson: ... a genetic species is a group of organisms so constituted and so situated in nature that a hereditary character of any one of these organisms may be transmitted to a descendant of any other.

 

 

4. Dobzhansky: A biological species is an inclusive Mendelian population; it is integrated by the bonds of sexual reproduction and parentage.

Der Letztere Verfasser schreibt 1977, p. 30:

A Mendelian population, or reproductive community (von den Verfassern kursiv), is "a community of individuals of a sexually reproducing species within which matings take place" (Dobzhansky, 1970, p. 310).

(p. 31:) The most inclusive reproductive community is the species.

 


5. Dietrich und Stöcker (Hrsg.) behalten 1980, p. 49 bei ihrer Definition des Artbegriffs die potentielle Fortpflanzungsgemeinschaft bei und heben neben anderen Punkten die deutliche morphologische Abgrenzung zwischen verschiedenen Arten hervor:

Art, Spezies, die wichtigste taxonome Einheit (Kategorie) des Systems der Pflanzen und Tiere. Als natürliche Grundeinheit umfaßt die A. die Gesamtheit aller Individuen oder Populationen, die einer potentiellen Fortpflanzungsgemeinschaft angehören, d.h., die A. ist auf Grund stammesgeschichtlicher Herkunft (Abstammungsgemeinschaft) durch mehrere konstante Vererbungsmechanismen morphologisch, physiologisch, embryologisch, verhaltensmäßig u.a. deutlich von allen anderen Abstammungsgemeinschaften geschieden. Sie besitzt auf Grund ihrer historischen Entstehungsweise ein ihren Lebensansprüchen entsprechendes, selbständiges und charakteristisches Verbreitungsgebiet (Areal) und ist von allen anderen A.en durch die Fortpflanzungsgemeinschaft zumindest benachbart lebender Individuen, die untereinander unbegrenzt fruchtbar sind, geschlechtlich (reproduktiv) isoliert. Diese reproduktive Isolierung, die A.en zu geschlossenen genetischen Systemen macht, ist, einmal eingetreten, nicht reversibel. A.en sind somit objektive Realitäten und nehmen im System eine Sonderstellung ein, da die übergeordneten systematischen Kategorien (Gattung, Familie, Klasse usw.) nicht in gleicher Weise objektivierbar sind. (Alle Abkürzungen von den Verfassern.)


Auf der anderen Seite wird im selben Werk der Begriff der Zwillingsarten akzeptiert (p. 913).

 



6. Vogel und Angermann stellen 1984, p. 495 die morphologische der biologischen Art gegenüber:


1. Die Konzeption der morpholog. Art, der Morphospezies, besagt:

- Die Art wird ausschließl. durch morphologische Merkmale abgegrenzt.

- Sie ist äußerlich immer deutlich von den nächsten Verwandten unterschieden.

- Sie birgt als "monotypisch" nur eine einzige Gruppe nahezu ident. Individuen.

- Sie ist damit die niedrigste, nicht mehr zu gliedernde systemat. Einheit.

Diese Auffassung erweist sich als individualistisch und typologisch, als zeitl. und räuml. "undimensional" (MAYR), indem evolutionäre und geograph. Variationen nicht gesehen werden: Abweichungen vom "Typus" sind Aberrationen, Mißbildungen.

Damit bleibt die Evolutionsfrage unbeantwortet. Schwierigkeiten bereiten auch die äußerl. nicht unterscheidbaren, aber nicht kreuzbaren Geschwisterarten, mögen sie sich in ihren Verbreitungsgebieten überlappen (sympatrische Formen) oder nicht (allopatrisch); so faßte man zunächst versch., aber morpholog. gleiche Moskito-Arten zu der einen „Anopheles maculipennis" zusammen (A).

2. Die Konzeption der biolog. Art, der Biospezies begreift in ihrer Definition der Art populationsgenet. und evolutionär die Spezies als Gruppe sich untereinander fortpflanzender natürl. Populationen, die reproduktiv von anderen solchen Gruppen isoliert sind. Das bedeutet im einzelnen:

- Die Art besteht aus Populationen, nicht aus beziehungslosen Individuen.

- Sie wird eher durch ihre Beziehungen zu ungleichartigen Populationen ("Isolation") als durch die zw. artgleichen Individuen charakterisiert.

- Das entscheidende Kriterium ist nicht die Kreuzbarkeit von Individuen, sondern die Fortpflanzungsisolation der Population als ganzer, wodurch der Genpool seine Eigenartigkeit aufrechterhält.

Die "Biospezies" ist also nicht durch den Besitz best., unterscheidender Eigenschaften, sondern durch ihre Relation zu anderen Arten definiert und gleicht darin einem Begriff wie "Bruder". Diese Konzeption ist real und kollektivistisch. Sie erfaßt als "vieldimensional" zeitl. und räuml. Änderungen und deutet sie als wesentlich zum Artbegriff gehörig:

Arten sind natürlicherweise meist polytypisch: sie umfassen oft räuml. getrennte, genet. bedingte Rassen, d.h. Gruppen von Individuen, die einen reinerbigen Unterschied im Erbgut gegenüber den anderen Artangehörigen gemeinsam haben. Die phänotyp. Unterschiede, die bei "einfachen Mendelrassen" auf nur ein einziges abgewandeltes Gen zurückgehen, sind gelegentl. nur gering. Oft stellen sich zw. mehreren Rassen gleitende Merkmalsübergänge sowohl innerhalb der Art als auch zu den Nachbararten ein (Rassenkreis S. 504 f.).

Aufsplitterung in Rassen ist entspr. dem populationsgenet. Modell und einem Art-Verständnis, das Rassen zuläßt, die nur quantitativ geringere Vorstufe einer mögl. Aufgliederung in neue Arten (Speziation): Artbildung setzt ein, wenn in der Population die Panmixie gestört wird und sich unter dem Einfluß der Evolutionsfaktoren in den voneinander isolierten Genpools versch. Gene bzw. Allele anhäufen.

Unter diesem Aspekt gewinnen die weitverbreiteten geograph. Variationen der Arten große Bedeutung. Sie äußern sich in morpholog. (Größe, Proportionen, epidermale Strukturen, Farbmuster), physiolog. (Wachstum, Vitalität) oder etholog. (Verhaltensweisen) Merkmalen. (Alle Abkürzungen von den Verfassern.)

 

- worauf die Autoren mehrere Beispiele geographischer Variation aufführen.

Vergleicht man diese Ausführungen von Vogel und Angermann zur Konzeption der morphologischen Art mit den unter Punkt 1 zitierten Definitionen, so fällt auf, dass die Einstufung der Morphospezies als "niedrigste, nicht mehr zu untergliedernde systematische Einheit" nur mit Cronquists, nicht aber mit Rauhs und Senghas' Definition übereinstimmt. Weiter betonen die letzteren Autoren sowohl ökologische Gegebenheiten als auch geographische Variationen, welche häufig als Subspezies geführt werden (vgl. Rauh und Senghas 1982, p. 31). Es ist daher angebracht, noch zwischen dem "undimensionalen" und einem morphologischen Artbegriff zu differenzieren, der geographische Variationen berücksichtigt.

 

 

7. Remane, Storch und Welsch bemerken zum morphologischen Artbegriff 1973/1980, pp. 183/184:

Daß der morphologische Artbegriff unvollkommen ist, zeigen die oft so großen Unterschiede zwischen den Geschlechtern und bei Generationswechsel zwischen den Generationen (Sporophyt und Gametophyt bei Farnen und Moosen). Daß Männchen und Weibchen zu einer Art gehören, auch wenn sie noch so verschieden sind, beweist ihre biologische Beziehung, die Paarung, oder genauer, die Vereinigung ihrer Gameten bei der Befruchtung. Schon 1753 rechnete Huffon zu einer Art all die Tiere und Pflanzen, die fruchtbare Nachkommen erzeugen können; als verschiedene Arten sah er jene an, die bei Kreuzung keine oder nur sterile Nachkommen hervorbringen. Oken schrieb schon vor 150 Jahren: „Was sich scharet und paaret, soll als Art gerechnet werden." Die biologische Beziehung war also der Merkmalscharakteristik übergeordnet: biologischer Artbegriff. Aber auch sicher verschiedene Arten können sich scharen und paaren, letzteres aber fast nur in der Gefangenschaft. Es kam noch die Forderung nach einer normal fortpflanzungsfähigen Nachkommenschaft hinzu. Heute bezeichnet man die Art als natürliche Fortpflanzungsgemeinschaft oder, da die Weitergabe und die Neukombination von Genen durch die Fortpflanzung erfolgt, als Gendiffusionsbereich.

 

Von Dobzhansky, Boesiger und Sperlich (1980), Jahn et al. (1982/1985), Mayr (1982), Willmann (1985) u.v.a. kommen zahlreiche Hinweise und Daten zur Geschichte des Artbegriffs, wozu an dieser Stelle nur vermerkt werden soll, dass die Bedeutung der reproduktiven Isolation für den Artbegriff schon von Ray (1686) besonders hervorgehoben und in den folgenden Jahrhunderten von den verschiedensten Autoren immer wieder aufgegriffen wurde. (Vgl. auch Atran et al. 1987) Im übrigen kommt der Gedanke ganz explizit schon im ersten Kapitel der Genesis zum Ausdruck, wo wiederholt gesagt wird, dass sich die verschiedenen erschaffenen Lebensformen nach ihrer Art fortpflanzen.

 

 

8. Stebbins betont die Bedeutung des jetzigen biologischen Artbegriffs für die Entstehung neuer Arten auf folgende Weise (1980, p. 115):

Wir beginnen mit einer einzelnen, relativ homogenen Population, die einen beschränkten Raum bewohnt und einen ziemlich großen Genpool besitzt; Kombinationen hieraus passen einige ihrer Individuen an neue Bedingungen an, so daß die natürliche Auslese sie auswählen und in neuen Biotopen ansiedeln kann. Wenn diese Möglichkeit besteht und neue Biotope verfügbar sind, kommt es für die evolutive Linie, die von einer Primärpopulation ausgeht, zur adaptiven Radiation. Individuen, die in neue Regionen eindringen, werden Unterpopulationen gründen, die sich in vielerlei adaptiven Merkmalen von der Ausgangspopulation und voneinander unterscheiden. Auf diese Weise wird sich eine polytypische Art entwickeln, die aus vielen, an verschiedene Bedingungen angepaßten Rassen besteht. Die am besten unterscheidbaren dieser Rassen oder Rassengruppen werden gewöhnlich Unterarten genannt. Von Zeit zu Zeit, aber keinesfalls immer, können Rassen von ihren Ausgangspopulationen in der Weise divergieren, daß ihre Fähigkeit, mit anderen Rassen Gene auszutauschen, reduziert oder aufgehoben wird. Dies kann dadurch geschehen, daß die Häufigkeit, mit der Hybriden zwischen den Rassen entstehen, vermindert wird oder dadurch, daß die Vitalität oder Fertilität der Hybriden oder ihrer Nachkommen sinkt. Wenn irgendwelche von diesen Schranken für den Genaustausch, die sog. Isolationsmechanismen, stark genug entwickelt sind, dann gelten diese Populationen als reproduktiv isoliert, d. h. in bezug auf die Fortpflanzung voneinander getrennt. Man bezeichnet die neuen Gebilde nunmehr als distinkte Arten.

Wenn späterhin neue Umweltveränderungen den reproduktiv isolierten Populationen erlauben, in dieselbe Gegend einzuwandern, können sie nebeneinander existieren und behalten getrennt ihren eigenen adaptiven Genkomplex bei. Jede der neuentwickelten Arten kann ihren eigenen abgegrenzten Zyklus adaptiver Radiation und Artbildung durchmachen. Auf diese Weise entwickelt sich eine adaptive Radiation höherer Ordnung als diejenige, die zu einer polytypischen Art führte. Dies bewirkt die Entwicklung von Gruppen verwandter Arten, die eine Gattung bilden.

 

 

9. Ayala und Kiger bezeichnen 1980, p. 732 die biologischen Arten als "evolutionary units":

In sexually reproducing organisms, a species is a group of interbreeding natural populations that are reproductively isolated from other such groups. Species are natural systems, defined by the possibility of interbreeding between their members. The ability to interbreed is of great evolutionary importance, because it establishes species as discrete and independent evolutionary units. Consider an adaptive mutation or some other genetic change originating in a single individual. Over the generations this may spread by natural selection to all members of the species, but not to individuals of other species. This can be stated differently: individuals of a species share a common gene pool, which is not, however, shared in by individuals of other species. Owing to reproductive isolation, different species have independently evolving gene pools. Reproductive isolation is the criterion of speciation in sexual organisms.

 

 

10. Im Gegensatz zu den meisten neodarwinistischen Autoren betont Fincham (1983, p. 549) unterschiedliche Merkmale zwischen den Arten in Verbindung mit der reproduktiven Isolation (wie schon die unter 5. zitierten Hrsg. Dietrich und Stöcker) und hält folglich die Aufstellung von Geschwisterarten für ungewöhnlich.

In the classification of living organisms the most natural and least arbitrary unit is the species, which can be defined (a) as a population sharing certain characteristics which distinguish it from other species and (b) as a population without internal breeding barriers but with effective contraints against interbreeding with other species. The two parts of the definition, distinctive phenotype and prevention of genetic exchange with other species, are connected, since without the breeding barriers species characteristics could not be maintained. In some groups of animals, genetic isolation is considered to be a sufficient warrant for species status in itself, even without clear phenotypic differences. For example, the two Drosophila species, D. melanogaster and D. simulans, are virtually indistinguishable by eye and can even hybrize, but are given separate specific status because the F1 hybrid is totally sterile and it is thus impossible for genes to be passed from one species to another. This is an unusual case for two reasons - genetic isolation will usually lead to phenotypic divergence by drift even if not by selection, and if it does not do so the distinction between the two species is likely to go unnoticed. (D. Hartl schreibt in ähnlicher Weise 1965/1974, p. 345: "Nun wäre selbst ein absolutes Kreuzungshindernis bekanntlich nicht notwendigerweise, sondern erst dann eine Artgrenze, wenn es mit triftigen Gestaltunterschieden zusammenfiele. Bei Euphrasia aber unterscheiden sich manche tetraploiden Sippen von diploiden sogar weniger als von anderen tetraploiden." Scrophulariaceae; in: Illustrierte Flora von Mittel-Europa, Bd. VI/ 1.Teil, 1- 469 ( G. Hegi).)

 

 

11. Nilsson stellt die Frage nach der Richtigkeit der Artbegriffe von Linné und Darwin und gibt folgende Antwort (1953, p. 254):

Klar ist ja, dass LINNÉs Auffassung von der Spezies als erblich ganz konstante Individuenblöcke nicht richtig ist. Sie sind statt dessen ausserordentlich, vielleicht oft unermesslich variabel, und erblich variabel. Innerhalb der Spezies ist also eine graduelle Variabilität realisiert, wie sich DARWIN die Tatsache dachte. Aber nur innerhalb der Spezies. Und ihre Ursache ist nicht evolutionärer Transformismus, sondern ein mendelscher Rekombinationsprozess. Die Tatsache der Variabilität hat DARWIN richtig aufgefasst, aber seine Erklärung ist unrichtig. Die Tatsache der Konstanz hat LINNÉ richtig aufgefasst, aber seine Deutung ist unrichtig. Die Konstanz ist keine invariable, sondern sie ist eine Konstanz der Variationssphäre, oder, wie man es ausdrücken kann, eine Konstanz der Artpopulation.

Ich habe deshalb die Spezies folgendermassen definiert:

Spezies ist ein Genotypenkreis (Kombinationssphäre), die aber als Population annähernd konstant ist, weil sie bei Kreuzung mit anderen Spezies inkompatibel oder avita1 reagiert (HERIBERT NILSSON, 1930, p. 88).

Das ist die konsequente mendelsche oder genische Definition, die sich aus den angeführten Tatsachen ergibt.

 

 

12. Einen von allen bisher zitierten Definitionen, Vorschlägen und Zielrichtungen stark abweichenden Artbegriff hat Lamprecht in zahlreichen Arbeiten, unter anderem 1944, 1966 und 1974 vorgeschlagen. Seine Vorstellungen werden im Folgenden ausführlich zitiert und später kommentiert.

Lamprecht beschreibt seinen experimentalgenetischen Artbegriff 1974, pp. 560/561 folgendermaßen:


Eine eindeutige und allgemeingültige Artdefinition kann nur auf experimentellem Wege erhalten werden. Es handelt sich hierbei um eine Untersuchung, welche inneren Faktoren für die Ausbildung von artentrennenden Merkmalen verantwortlich sind. Solche Faktoren sind von dreierlei Beschaffenheit:

1. die genotypische Konstitution,

2. die chromosomalen Verhältnisse, vor allem die Chromosomenstruktur, und

3. die Spezifität des Plasmas.

Eine Klarlegung der Wirkung dieser drei Faktoren ist stets mit Hilfe von Kreuzungen möglich. Voraussetzung hierbei ist, daß es sich um zwei miteinander kreuzbare, nächstverwandte Arten handelt, deren genetische und zytologische Verhältnisse einigermaßen gut bekannt sind.

Handelt es sich nur um als Arten aufgefaßte Rassen, so bekundet sich dies in Kreuzungen zwischen solchen dadurch, daß die als artentrennend aufgefaßten Merkmale von der einen Art in die andere und vice versa überführt und in fertilen Nachkommen erhalten werden können. Ob die Kreuzung selbst normal fertil oder partiell steril ist, spielt hierbei keine Rolle, da eine teilweise Sterilität solchenfalls durch mehr oder weniger abweichende Chromosomenstruktur der Eltern bedingt sein kann. Die scheinbar artentrennenden Merkmale können hierbei auch kombiniert mit verschiedener Chromosomenstruktur in fertilen Individuen erhalten werden. Langjährige Studien haben dargetan, daß verschiedene Chromosomenstruktur allein, d. h. ohne verschiedenen Inhalt an artentrennenden Genen, keine unüberbrückbare Artbarriere bilden können, eine Auffassung, die auch GOLDSCHMIDT (1948) zur seinen gemacht hat.

Das endgültige Ergebnis der genanalytischen Untersuchung einer Kreuzung zwischen wirklichen Arten, die man als naturbedingt bezeichnen kann, ist stets ein sehr einfaches. Man findet in solchen Kreuzungen immer zweierlei Spaltungen, nämlich teils 1 : 2 : 1 (= 3 : 1), teils 1 : 2 : 0. Im letzteren Fall werden statt 0 doppeltrezessive, häufig auch sterile, aber niemals fertile Individuen erhalten.

Die erste, die 3 : 1 -Spaltung, ist charakteristisch für beliebige Genspaltungen innerhalb einer Art sowie für in nahe verwandten Arten vorhandene, gemeinsame Gene. Das zweite Spaltungsverhältnis 1 : 2 : 0 fertil ist kennzeichnend für Gene, deren Allele auf verschiedene Arten verteilt sind. Diese wurden daher als interspezifische, die ersteren als intraspezifische bezeichnet.

So einfach diese beiden Spaltungstypen sich zeigen, so schwierig ist es, sie in Kreuzungen zwischen wirklichen Arten experimentell festzustellen. Es erfordert eine umfangreiche und mühevolle Untersuchung, die dadurch bedingt wird, daß stets eine größere Anzahl von Genen gleichzeitig spaltet. Wenn z. B. 40 oder noch mehr Gene gleichzeitig spalten, so muß jedes einzelne dieser darauf geprüft werden, welchem Spaltungstyp es angehört. Und hierzu ist immer ein Studium in einer größeren Anzahl von Generationen erforderlich, bis endlich für jedes einzelne Gen klarer Bescheid erhalten wird. Koppelungen und komplementäre Geneffekte wirken hierbei nicht selten sehr störend.

Schließlich zeigt sich, daß in Artkreuzungen immer die beiden erwähnten Spaltungstypen gefunden werden:

1. Gene, die in beiden Kreuzungsrichtungen in Übereinstimmung mit 1 AA : 2 Aa : 1 aa spalten, d. h. dem Mendelschen monogenen Spaltungstyp von 3 : 1 entsprechen. Es sind dies die intraspezifischen Gene. Diese spalten auch binnen jeder der Elternlinien in gleicher Weise.

2. Gene, die je nach der als Mutter benutzten Linie folgende Spaltung zeigen:

mit AA als Mutter: 1 AA : 2 Aa : 0 aa bzw. steril,

mit aa als Mutter: 1 aa : 2 Aa : 0 AA bzw. steril.

Eine solche Spaltung zeigende Gene werden, da ihre Allele auf verschiedene Arten verteilt sind, als interspezifische bezeichnet.

Wie ersichtlich, ist der vorstehend erwähnte Spaltungstyp von interspezifischen Genen ebenso klar und leicht zu verstehen wie das Mendelsche monogene Verhältnis 3 : 1. Mit Hinblick auf die unüberbrückbare Artbarriere kann kurz festgestellt werden, daß die für die Ausbildung von spezieseigenen Merkmalen des väterlichen Elters verantwortlichen Allele zusammen mit Homozygotie und Fertilität - im mütterlichen Plasma nicht reproduziert werden können (s.u.).

Dieses Verhalten der interspezifischen Gene bildet die Grundlage für die unüberbrückbare Barriere zwischen wirklichen, d. h. naturbedingten Spezies und auch allen höheren Kategorien. Es ergibt sich: die intraspezifischen Gene sind verantwortlich für die genisch bedingte Variation der Merkmale innerhalb der Spezies. Die interspezifischen Gene sind verantwortlich für die Ausbildung von Merkmalen, die Spezies und höhere Kategorien trennen.

 

Daraus folgt seine Artdefinition, die er 1966, pp. 88, 157, 225, 427 und an anderen Stellen wiederholt betont hat:

Die Art ist der Inbegriff sämtlicher Biotypen, die Träger derselben Allele von interspezifischen Genen sind.

 

An Arten der Gattungen Phaseolus, Chrysanthemum, Pisum und vielen anderen hat er seinen Artbegriff in Einzelheiten demonstriert - für die genannten Gattungen mit einem experimentalgenetischen Aufwand von mehreren Millionen Pflanzen.

 

 

13. Noch einen Schritt weiter als Lamprecht geht der Zoologe Marsh, wenn er 1941/1957 (mit näheren Erläuterungen 1976, 1978 und 1981) den Artbegriff, zunächst auf das Tierreich bezogen, folgendermaßen definiert:

Animals are members of the same kind if their gametes can participate in true fertilization, i.e. the nuclei can unite so that chromosomes from both parents play a role in development.

(1978, p. 117:) Hybridization is probably the single greatest source of new variants. Witness the enormous number of hybrids among our domesticated plants and animals today. If we could only cross two different basic types we would surely get a new basic type. However, all practical and laboratory evidence indicates that if two organisms are sufficiently different morphologically to constitute two different basic types, they can not hybridize. To say this the other way around, in every verified instance where cross breeding has occurred the two partners have been sufficiently alike to belong to the same basic type. There is no exception to this principle in natural sexual reproduction. (Kursiv vom Verfasser)

 

Marsh hat diesen Artbegriff auch auf die Pflanzenwelt angewandt und für gültig erklärt (1967, 1976, 1978, 1981, 1983).

 

 

14. Der paläontologische Artbegriff ist in der Praxis weitgehend mit dem morphologischen gleichzusetzen (vgl. Clarkson, zitiert auf der Seite 291 dieser Arbeit). Die Betonung des morphologischen Artbegriffs liegt zum Teil in der Natur der Sache. Der Nachweis eines wie auch immer gearteten Isolationsmechanismus bei nah verwandten Formen ist in der Regel bei Fossilien sehr schwierig und die Feststellung einer Sterilitätsbarriere bekanntlich unmöglich. Dennoch gibt es Ansätze zur Überwindung des rein morphologischen Artbegriffs in der Paläontologie. Von Simpson (1951, 1961, p. 153 - zitiert nach Willmann 1985) stammt das Konzept der "evolutiven Art", die nach ihm als

"phyletic lineage (ancestral-descendant sequence of interbreeding populations) evolving independently of others, with its own separate and unitary evolutionary role and tendencies"

definiert und von Wiley (1981) in erweiterter Fassung übernommen worden ist. Die Zusammenfassung von in Erdschichten aufeinander folgenden, unterschiedlichen Formen zu einer Art zeigt, dass dieser Artbegriff wesentlich umfassender ist als der morphologische. Ax (1984) und Willmann (1985) gehen noch darüber hinaus, wenn sie grundsätzlich alle (morphologisch auch noch so) unterschiedlichen Formen zu einer einzigen Art zusammenfassen, solange keine "Artaufspaltung" stattfindet (kladistischer Artbegriff).

Weiter könnte man sich beim paläontologischen Artbegriff verstärkt an den morphologisch-anatomischen Unterschieden miteinander kreuzbarer, rezenter Lebensformen (einschließlich der Haustiere und Kulturpflanzen) orientieren.

Wir wollen auf Einzelheiten bei der Diskussion der Stärken und Schwächen der Artdefinitionen zurückkommen.


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