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A. GEMEINSAMKEITEN DER ARTDEFINITIONEN

 

Mit den Ausnahmen des morphologischen und 'evolutiven' Artbegriffs ist allen anderen Artdefinitionen die Abgrenzung der Art durch die reproduktive Isolation gemeinsam - wie auch immer diese im Einzelnen beschaffen sein mag (dazu später mehr).

Dadurch wird die Art - wegen der mit dem morphologischen Artbegriff verbundenen Schwierigkeiten (siehe unten) von Darwin und seinen Nachfolgern zunächst als rein willkürlich-subjektiver Begriff menschlicher Einbildungskraft abgewertet - auch für die Vertreter der Synthetischen Evolutionstheorie zur "biologischen Art", d.h. "zur umfassendsten Mendelschen Population", zum "annähernd konstanten Genotypenkreis", zur "objektiven Realität"; die Art ist "real und kollektivistisch", eine "natürliche Fortpflanzungsgemeinschaft" und damit ein "natürliches System" und schlicht "die natürlichste und am wenigsten willkürliche Einheit" der ganzen Klassifikation.

Wenn auch einige der oben zitierten Biologen den Artbegriff weiter fassen (über die gegebene natürliche Fortpflanzungsgemeinschaft hinausgehen), so sind sich doch fast alle darin einig, dass alle Individuen und Populationen, die zu einer natürlichen Fortpflanzungsgemeinschaft gehören und die umfassendste Mendelsche Population bilden, grundsätzlich zur selben Art gehören.

Werfen wir einen Blick auf die Folgen für die Systematik und unsere anfangs aufgeworfenen Frage nach den Artenzahlen. Jahn gibt nach Stresemann für die Vogelwelt die Erhöhungen der Artenzahlen 'aus jeweils einschlägigen systematischen Werken oder Museumskatalogen' bis zum Jahre 1909 wieder (1982, p. 539):

 

1758

(LINNÉ: 10. Aufl. des Systema naturae)

564 Arten

1760

(BRISSON Ornithologia)

1.500 Arten

1790

(LATHAM: Index ornithologicus)

2.951 Arten

1812

(ILLIGER: Tabellarische Übersicht über die Vertheilung der Vögel über die Erde)

3.779 Arten

1841

(G.R. GRAY: British Museum London. Katalog)

6.000 Arten

1871

(G.R. GRAY: British Museum London. Katalog)

11.162 Arten

1909

(SHARPE: Hand-list of the genera and species of birds)

18.939 Arten

Als Grundlage für die Zahl von 1909 diente in den zoologischen Museen eine Sammlung von rund 400.000 Vögeln und Eiern (Jahn nach Stresemann). Inzwischen sind über 8.000 weitere Formen beschrieben worden, was eine Artenzahl von rund 27.000 Spezies ergäbe - wie wir aber anfangs (vgl. p. 15) gesehen haben, beläuft sich die von den Systematikern angegebene Zahl der Vogelarten zwischen 8.700 und 9.021 (Mit Tabelle p. 14: 9.040). Die Verringerung ist auf die Einführung der polytypischen Art zurückzuführen (vgl. Mayr 1963, pp. 274/275 und 1982, p. 290).

Weiter berichtet Mayr, dass 22 beschriebene Arten nordamerikanischer Wiesel in 4 zusammengefasst werden konnten und mehrere tausend Arten eurasischer Säugetiere auf etwa 700 zusammenschrumpften. Die Bedeutung des biologischen Artbegriffs für die Gattungsklassifikation wurde von Mayr folgendermaßen zusammengefasst (Literatur wie oben, 1963/1967):

Ein zusätzlicher Gewinn der Anerkennung der polytypischen Art besteht darin, dass sie zu einer Neubewertung und Vereinfachung der Gattungsklassifikation beigetragen hat. Sobald z. B. die 19.000 nominellen Vogelarten in polytypische Arten gruppiert waren, wurde ersichtlich, daß viele der nun anerkannten Genera monotypisch waren. Jede solche Gattung war nichts weiter als eine Bezeichnung für eine morphologisch deutliche Art. So definiert fiel das Genus mit der polytypischen Art zusammen und vermochte seine eigentliche Funktion, nämlich die, die Verwandtschaft zwischen Arten anzuzeigen, nicht zu erfüllen. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, wurde eine Vereinigung von Vogelgattungen im großen Maßstab notwendig, indem man sie von 6000 oder 7000 (die Zahl die von mehreren Autoren etwa 1920 als gültig bezeichnet worden war) auf etwa 1700 oder 1800 (die derzeitig anerkannte Zahl) reduzierte. Im Laufe der Neubewertung des Genus ließ es sich zeigen, daß es fast immer "morphologische" Unterschiede sind, die irgendwelche zwei Arten unterscheiden (Geschwisterarten ausgenommen), und daß ein bloßer morphologischer Unterschied daher ein nutzloses Gattungskriterium ist. Ziemlich auffällige morphologische Abweichungen können manchmal in der Tat sogar zwischen unterschiedlichen Unterarten einer einzigen polytypischen Art gefunden werden. Erst wenn man die Gattung als eine Gruppe von verwandten Arten definiert, tritt eine beträchtliche Vereinfachung der generischen Klassifikation ein. Sie führt z. B. in den Opilioniden-Familien Phalangodidae und Cosmetidae zu einer Verringerung der Anzahl der Gattungen von 108 auf 11 (GOODNIGHT und GOODNIGHT 1953). Es würde nicht überraschend sein, wenn die Anwendung des polytypischen Artbegriffes auf fossile Tiere, besonders auf fossile Wirbellose, zu derselben Vereinfachung auf der Stufe von Art und Gattung führen würde wie in der Neontologie.

 

Mayr betont jedoch wiederholt, dass sich - trotz zunehmender Beliebtheit - der biologische Artbegriff in weiten Bereichen der Systematik in der Praxis noch nicht durchgesetzt hat.

Was sich hier jedenfalls abzeichnet, steht ganz im Gegensatz zu der anfangs zitierten Tendenz, dass sich die Artenzahlen immer weiter erhöhen. Einige Einschränkungen zu dieser Aussage werden wir aber später noch machen müssen.

Wir wollen aber festhalten, dass sich bei den Vögeln durch die Anwendung des biologischen Artbegriffs die Zahl der Arten auf 30 Prozent und die Zahl der Gattungen auf etwa 25 Prozent reduziert hat. (Die Vögel werden hier sooft zitiert, weil es sich bei dieser Tiergruppe um die bisher am besten durchgearbeitete von allen systematischen Gruppen der Tierwelt handelt.)


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