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DARWINISTISCHE LÖSUNGSVERSUCHE

 

Mancher Leser wird wohl überrascht sein, wenn er erfährt, dass von seiten des Neodarwinismus die oben zitierten Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zum großen Teil nicht nur akzeptiert, sondern um ähnliche Berechnungen noch ergänzt werden. Diese Anerkennung und Ergänzung erwuchs vor allem aus dem Streit um die Frage, ob das jeweils sprunghafte Auftreten neuer Familien, Ordnungen, Klassen etc., welches die Paläontologie in den verschiedenen Erdformationen immer wieder feststellen musste, nicht möglicherweise auf Groß- oder Komplexmutationen zurückzuführen sei. Führende Vertreter des Neodarwinismus wie G.G. Simpson u.a. haben dazu Berechnungen vorgelegt. E. Thenius hat Simpsons Überlegungen auf die folgende kurze und prägnante Formel gebracht (1972, p. 101):

Simultane Komplexmutationen, die für das plötzliche Auftreten völlig neuer Organisationstypen notwendig wären, konnten bisher nicht nachgewiesen werden. Da die Gene unabhängig voneinander und richtungslos mutieren, ist die Wahrscheinlichkeit, daß tatsächlich ein lebensfähiger Organismus durch eine derartige simultane Komplexinutation (z.B. 5 Mutationen) entsteht, so gering, daß selbst unter günstigen Voraussetzungen (Population von 100 000 000 Individuen, Generationsdauer 1 Tag und Mutationsrate 0,000 01), nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung für ein einmaliges Auftreten eine Zeitspanne notwendig wäre, die das Alter der Erde um das Hundertfache übertrifft (G.G. Simpson). Das heißt, mit den Ergebnissen der Genetik lassen sich große, sprunghafte Veränderungen, die mit durchgreifenden Umkonstruktionen verbunden sind, nicht in Einklang bringen.16)

Im Original klingt derselbe Gedanke mit ergänzenden Erläuterungen so:

Selbst durch die weite Spanne der geologischen Zeit ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses so klein, daß sie vernachlässigt werden kann, z.B. würde bei Annahme einer Mutationsrate von 0, 000 01 und bei der Voraussetzung, daß die Entstehung einer jeden Mutation die Aussichten einer anderen Mutation in derselben Zelle verdoppelt - das ist eine größere Abweichung vom Zufallsgeschehen, als vorkommen kann - die Wahrscheinlichkeit, daß fünf gleichzeitige Mutationen in irgendeinem Individuum entständen, etwa 0, 000 000 000 000 000 000 0001 sein. In einer durchschnittlichen Population von 100 000 000 Individuen mit einer durchschnittlichen Generationsdauer von nur einem Tage kann ein solches Ereignis nur einmal in etwa 274 000 000 000 Jahren erwartet werden, ein Zeitraum, der etwa hundertmal das Alter der Erde übertrifft. Ein solches Vorkommen ist offensichtlich nicht häufig genug gewesen, um als echter Evolutionsfaktor in Betracht zu kommen, insbesondere wenn man daran denkt, daß er einen lebensfähigen harmonischen Organismus erzeugen müßte, der mindestens ebensogut wie eine jede schon vorhandene Form an eine verfügbare Umwelt angepaßt war, und daß die Chancen dafür in Wirklichkeit so klein sind, daß sie vernachlässigt werden können.16a)

Auch die oben zitierten Berechnungen von Remane und Bleuler gehören demnach zu der Frage nach der Möglichkeit positiver Großmutationen, welche die Darwinisten verneinen. So schrieb mir zur Berechnung Remanes beispielsweise ein Diplom-Biologe und Neodarwinist, dass es der Realität besser entsprechen würde, "wenn wir fragen, wie lange es dauert, bis bei einer bestimmten Anzahl von Würfeln, jeder einmal eine 6 gewürfelt hat, und das kann sehr schnell gehen. Es ist ja nicht notwendig, daß alle Mutanten, die an der Herstellung des Wirbeltierauges beteiligt waren, gleichzeitig aufgetreten sind; denn viele werden, wenn sie allein schon einen Selektionsvorteil mit sich bringen, aufbewahrt und durch Selektion angereichert, so daß die nächste 6 ruhig viele Generationen nach der vorhergehenden gewürfelt werden kann."17)

Wenn das Problem so einfach läge, dürfte es eigentlich kaum eine Schwierigkeit sein, durch Vervielfachung der Mutationsrate einem Regenwurm "einen Satz Lateralaugen" selektiv zu entwickeln. Das geht aber schon deswegen nicht, weil bereits die Bildung eines einzigen neuen Gens eine Art Makromutation mit allen nach W. Heitler berechneten Unwahrscheinlichkeiten ist.

Wie fraglich es überdies ist, ob allein auftretende Kleinstmutationen schon einen Selektionswert haben, ist aus den oben zitierten Überlegungen von Siegmund und Dürken (p. 8) zum Koadaptationsphänomen ersichtlich. Wir kommen damit um Makromutationen gar nicht herum. Dieses Problem der Koadaptation sieht jedoch auch unser eben zitierter Biologe:

Ich möchte Sie aber auf ein anderes Problem hinweisen, was mir Kopfschmerzen bereitet und doch wohl Wasser auf Ihre Mühle sein müßte. Es hängt mit dem etwas kontroversen Problem der genetischen Bürde zusammen. Es wurde ja nicht nur am Auge selektiert, sondern gleichzeitig mußten unendlich viele andere Mechanismen in den Wirbeltieren entstehen, und wenn sie entstanden waren, durch stabilisierende Selektion immer wieder funktionstüchtig gehalten werden. Es müssen ... viele Selektionsprozesse gleichzeitig vorsichgehen, die sich gegenseitig durchkreuzen. Wie dabei noch etwas Vernünftiges entstehen konnte, ist mir ein Rätsel.18)

Dazu ist hinzuzufügen, dass wir ja das Koadaptationsproblem bereits im Auge selbst vorfinden, wie aus den Überlegungen Bleulers ersichtlich ist. Viele Schritte in der Entwicklung der einzelnen Teile müssen gleichzeitig vor sich gehen, damit ein funktionsfähiges Ganzes entstehen kann. Die Linsenbänder (Conula ciliaris) müssen in genauer Relation (Ansatzstellen, Elastizität, Zugkraft) zur Linse (Dehn- und Verformbarkeit u.a.) stehen, genauso wie beides und mehr zur Cornea (Wölbung und Lichtbrechungsvermögen) und umgekehrt. Alle drei (und weitere Details) müssen in ihrer Wirkung wiederum auf die Länge der Augenachse (Axis bulbi) bezogen sein etc. Wenn sich eine Struktur des Auges allein weiterentwickelte, würde sie sich bei der begrenzten Variationsmöglichkeit* aus dem fein aufeinander abgestimmten Verband der Strukturen herauslösen. Ebenso müsste sich mehr als nur eine Muskelansatzstelle und entsprechende Muskeln und Sehnen gleichzeitig herausdifferenzieren. In der Ontogenie finden wir diesen Gedanken der gleichzeitigen Entstehung der Teilstrukturen weitgehend bestätigt.

Interessant ist nun noch ein Blick auf andere biologische Phänomene, bei denen so viele verschiedene Differenzierungsstufen wie wir sie beim Auge vorfinden, selektionstheoretisch gar nicht möglich sind, weil einfachere Strukturen keine sinnvolle biologische Funktion hätten. Mein "Paradepferd" ist der Fangmechanismus von Utricularia vulgaris. Dieses Beispiel habe ich in den letzten Jahren wohl schon mehr als 100 selektionstheoretisch orientierten Biologen vorgelegt, darunter führenden Neodarwinisten. Niemand brachte eine vernünftige Erklärung zustande. Wer hier noch mit Mutation und Selektion arbeiten will, kann nur noch auf Goldschmidts "hopeful monster" d.h. auf Großmutationen hoffen.°

*Geht die Abweichung darüber hinaus, so finden wir die bereits erwähnten erblichen Missbildungen.

°Vgl. Lönnig, W.-E. 1988, pp. 325 - 473

Bewährt hat sich bei dieser Problemlage für den Darwinismus die schon zur Zeit Darwins folgendermaßen praktizierte und umrissene Methode:

Man will das Problem dadurch lösen, oder richtiger: verschwinden machen, daß man das Objekt der Frage, die Entstehung der fertigen Form, in ihre kleinsten Elemente auflöst, um bei dem oberflächlichen Leser, welcher sich für jene ganz unbedeutenden, fast unsichtbaren Abänderungen natürlich mit irgend einem unfassbaren Erklärungsgrunde, wie die Neigung der Organismen zu variieren, zufällig abzuändern u. dergl., gern zufrieden gibt, und bei den überraschenden Leistungen der natürlichen Zuchtwahl für die Erklärung der bestehenden Formen-Kreise unwillkürlich den Eindruck mitnimmt, als wäre damit auch die Entstehung der Formen erklärt. Allein die Summe unendlich vieler unendlicher kleiner Rätsel gibt noch keine Lösung des Gesamträtsels. (Prof. A. Wigand).19)

Wie diese Methode in neodarwinistischer Praxis aussieht, zeigt uns zu unserem Thema z.B. der Zoologe Prof. B. Rensch (1970, pp. 143/144 aus einer Diskussion):

Kann wirklich die Entstehung solcher vollendeten Organe (Augen der Wirbeltiere), die kompliziert strukturiert sind und sich an Hell und Dunkel, an Nah und Fern anpassen, mit kleinen "zufälligen", jedenfalls richtungslosen Mutationen und Ausleseprozessen erklären? Zunächst mag dies undenkbar erscheinen. Aber wir haben in der heutigen Tierwelt Modellreihen für eine solche Organentstehung. Es gibt in mehreren Tiergruppen sehr verschiedene Augentypen, von ganz einfachen verstreuten Lichtzellen bis zu Linsenaugen, wie sie etwa die Augen der Tintenfische darstellen, die ganz hervorragend arbeiten, wie man durch viele Experimente weiß. Diese modellmäßige Stufenfolge beginnt mit einzelnen primitiven Formen, die nur einfache lichtempfindliche Zellen haben mit ein paar Pigmentzellen dazwischen. Bei anderen Arten sind die Zellen schon stark angehäuft, und die Schicht der Sehzellen ist eingefaltet. Damit haben diese primitiven Grubenaugen, die nur Hell und Dunkel unterscheiden können, nun eine neue Fähigkeit entwickelt. Da die eine Seite der Grube Licht von der anderen Seite, die andere Seite der Grube von der entgegengesetzten Seite erhält, ist ein Richtungssehen möglich, das für viele Lebewesen wichtig ist, um sich auf das Licht hin, vom Licht weg oder in einem Winkel zum Licht zu bewegen. Wenn diese Einsenkung noch mehr vertieft wurde, so daß ein kugeliges Blasenauge entstand, konnte auch ein Bildsehen möglich werden. Es konnte sich zunächst nach dem Prinzip der Lochkamera ein umgekehrtes Bild auf der Netzhaut darstellen oder, wenn davor noch ein glasiger runder Körper das Licht stärker brach, konnte auch eine Linsenwirkung den Effekt verstärken. Bei Hohltieren, höheren Würmern und Weichtieren gibt es alle diese verschiedenhoch entwickelten Augentypen. Man kann rein theoretisch auf Grund solcher Modellserien sehr wohl auch mit ungerichteter Mutation und natürlicher Auslese von Zellvermehrungen und nachfolgenden Einsenkungen schließlich die Blasenaugen-Entstehung erklären, ohne irgendeine richtende Kraft vorauszusetzen.

Die primitivsten Fische haben z.B. noch keine Adaptation. Sie können sich nicht an Hell und Dunkel, an Nah und Fern anpassen. Es gibt aber auch Fischaugen, die schon eine primitive Akkomodation auf Nah und Fern und eine Adaptation an Hell und Dunkel erlauben. Bei Landtieren kam dann noch die Irisblende hinzu, die verschieden weit zugezogen werden kann. All das hat sich im Wirbeltierstamm offenbar stufenweise entwickelt. Wir sehen bei der Analyse der Evolutionsabläufe keine Notwendigkeit, für die Entstehung dieser komplexen Organe andere Faktoren anzunehmen als die, die so gut und tausendfältig untersucht sind wie Mutation, Genkombination und Auslesevorgänge. Solange wir nicht gezwungen werden, irgendeinen geheimnisvollen richtenden Faktor anzunehmen, für den wir bislang keine physiologische Grundlage finden können, versuchen wir, mit den gut analysierten, basalen Faktoren auszukommen.20)

Zunächst fällt bei diesen Ausführungen auf, dass nur mit dem isolierten Organ (bzw. jeweils einzelnen Strukturen des Auges) gearbeitet wird, d.h. das so wichtige Koadaptationsproblem wird nicht erwähnt. Mit isolierten Organen bzw. Strukturen lässt sich leicht in der Vorstellung arbeiten. Außerdem ist die Modellreihe aus Beispielen verschiedener (also sowieso nicht verwandter) Tierklassen zusammengestellt. Bei den Wirbeltieren fehlen die meisten der hier zitierten Zwischenformen (beim Lanzettfischchen haben wir einfache Lichtsinneszellen, die im gesamten Rückenmark vorkommen, aber keine seitlichen Linsenaugen; bei der nächsten Stufe, den Neunaugen hingegen schon das voll differenzierte Wirbeltierauge).

Der letzte Satz des Zitats von Prof. Rensch ist geschenkt. Selbstverständlich versuchen wir zunächst immer, mit den uns bekannten Faktoren auszukommen. Nicht geschenkt sind jedoch die einzelnen Schritte von "einfachen lichtempfindlichen Zellen" zum komplexen Wirbeltierauge und auch nicht die hier aufgeführten Faktoren, die diese Schritte verursacht haben sollen. Was in dem hier zitierten Beispiel getrieben wird, ist keine Wissenschaft mehr, sondern Demagogie: Das, was hier eigentlich zu erklären ist, nämlich die einzelnen (bzw. vielen) Schritte von jeweils einem einfacheren zu einem komplexeren Stadium in der "Entwicklung" des Auges, das wird hier einfach als gegeben vorausgesetzt und in bald allen Lehrbüchern auch so publiziert. Die in dem Zitat wichtigsten Punkte habe ich am Rande in Klammern numeriert.

(1) "Bei anderen Arten sind die Zellen schon stark angehäuft, und (2) die Schicht der Sehzellen ist eingefaltet."

Aus: Hadorn/Wehner 1974

Wer will, kann sich die ersten Stufen der Entstehung des Auges so vorstellen, aber er sollte wissen, dass nicht einmal die hier dargestellte primitivste Umbildung von dem einen Augentyp zum anderen bisher in der Natur beobachtet oder im Labor experimentell (Mutationen) aufgezeigt worden ist. In diesem und den folgenden (meist wesentlich komplizierteren) Beispielen wird also nur mit Vorstellungsmöglichkeiten, nicht mit realen Umwandlungsprozessen, operiert.

Man kann - ganz nach Wunsch und Argumentationsziel - diese "Entwicklung" ebensogut vom Komplizierten zum Einfachen verlaufen lassen; denn auch das wäre im Einklang mit der Vorstellungskraft. Darüber hinaus könnte man sich auf das Entropiegesetz berufen ("ungeordnete Zustände sind wahrscheinlicher als geordnete") und noch bestimmte selektionstheoretisch wichtige Umweltbedingungen für eine Rückentwicklung wahrscheinlich machen, etwa bei Tieren ("Würmern" z.B.), die sich zunehmend in lichtärmeren Biotopen aufhalten und für die es eine Energieverschwendung wäre (Selektionsnachteil), weiterhin komplizierte, aber im wesentlichen unbrauchbare Strukturen aufzubauen. Spezielle Rückentwicklungen (im Gegensatz zu speziellen komplexeren Neudifferenzierungen) sind faktisch erwiesen, da sowohl durch Mutationen im Labor als auch bei verschiedenen Höhlentieren bekannt (vgl. z.B. B.C. Kosswig und N. Peters: "Die Evolution der Höhlentiere"; in: Bild der Wissenschaft; Okt. 1967).

Was hier für (1) und (2) gesagt worden ist, trifft genauso zu für:

(3) Einsenkung -> Blasenauge

(4) Netzhaut

(5) "glasiger runder Körper"

(7) primitive Akkomodation auf Nah und Fern

(8) Adaptation an Hell und Dunkel

(9) Irisblende

(6) und (10) ungerichtete Mutationen, Neukombination und Auslese reichen theoretisch aus. Weitere Faktoren nicht notwendig.

(3) Einsenkung zum Blasenauge lässt sich verhältnismäßig einfach noch "vorstellen". Wesentlich schwieriger wird die Sache mit den übrigen Punkten:

(4) Bildung der Netzhaut: Prof. H. Stieve berichtet über den komplexen Aufbau dieses Gewebes u.a. (Stieve 1973, p. 139):

Unsere Lichtsinneszellen, die Stäbchen und Zapfen, sind so gebaut, daß sie für ihre Übersetzerfunktionen besonders geeignet sind. Ein typisches Stäbchen (Abb. 5) besteht aus mehreren Abschnitten: Das Außensegment (Abb. 6) besteht im wesentlichen aus Membranen, die den Sehfarbstoff, das Rhodopsin, enthalten. Diese Membranen bilden flache Scheiben oder Säckchen, die übereinander gestapelt sind. Das Außensegment fungiert als Antenne. Der hier gelagerte Sehfarbstoff fängt die Lichtquanten ein. Darauf folgt ein Abschnitt, das Innensegment, in dem sich die Kraftwerke der Sehzelle befinden, die den Energiebedarf der Zelle - unter anderem den für die elektrische Arbeit - decken. Daran schließt sich der Abschnitt der Zelle, der den Zellkern enthält, an mit einem Nervenfortsatz, der über eine Synapse (eine Miniaturrechenstation) zu den anschließenden Nervenzellen führt, die die Erregung verarbeiten. Der Bau der Zapfen ist ähnlich dem der Stäbchen.22)

Abb. 4: Stark vereinfachtes Verschaltungsschema eines Ausschnitts der Netzhaut. (Nach Polyak) Aus: Stieve 1973

Über die Zapfen, die für die Farbwahrnehmung zuständig sind, schreibt H. Wurmbach (LEHRBUCH DER ZOOLOGIE, 1970, pp. 526/527):

Durch ein besonders zu diesem Zweck entwickeltes Mikrospektralphotometer gelang es G. WALD und P.K. BROWN, den Spektralbereich der Absorption im sichtbaren Licht zwischen 380 - 700 nm bei einzelnen Zapfen der menschlichen Retina zu messen. Es gibt drei Gruppen von Zapfen, blauempfindliche mit maximaler Absorption bei etwa 440 nm, grünempfindliche mit maximaler Absorption bei 540 nm und rotempfindliche mit maximaler Absorption bei 570 nm (gelb). Die drei verschiedenen Sehfarbstoffe entstehen dadurch, daß die gleiche chromophore Gruppe, das Retinen (Vitamin A-Aldehyd), an drei verschiedene Eiweißkomponenten gebunden wird. Das normale Farbensehen ist beim Menschen also "trichromatisch" entsprechend der Dreikomponententheorie von YOUNG-HELMHOLTZ. Durch Mischung der drei Primärfarben können alle Farbempfindungen erzeugt werden.

Jeder der drei verschiedenen Eiweißkomponenten entspricht ein Gen. Die beiden Gene für die für Rot und für die für Grün empfindlich machende Eiweißkomponente liegen im X-Chromosom und werden rezessiv geschlechtsgebunden vererbt. Die Frauen, die zwei X-Chromosomen besitzen, sind nicht farbenblind, auch wenn in einem ihrer X-Chromosomen das entsprechende Gen fehlt, weil dieser Defekt durch das im anderen X-Chromosom befindliche Gen kompensiert wird. Bei Männern mit nur einem X-Chromosom kommt das Fehlen aber zur Auswirkung, so daß bei ihnen Protanopie (Rotblindheit) und Deuteranopie (Grünblindheit) viel häufiger als bei Frauen auftritt, die nur "Konduktorinnen" sind. Das Gen für Tritanopie (Blaublindheit) ist in den Autosomen verankert, dominant und kommt sehr selten, aber gleich häufig bei Männern und Frauen vor.23)

Abb. 5: Schema eines Stäbchens. (Nach Sjöstrand) Abb. aus H. Stieve 1973

Abb. 6: Elektronenmikroskopische Aufnahme eines Stäbchenaußensegments. Gefrierätzung; Vergr. rd. 28 000 : 1 - Original 68 000 : 1. (Nach Rosenkranz) Abb. aus H. Stieve 1973

Ein wichtiger Punkt, der in manchen Arbeiten und Lehrbüchern übergangen wird, liegt mir zum Thema Netzhaut noch am Herzen. Heitler hat ihn in einer neueren Schrift wie folgt formuliert:

[Die Netzhaut] besteht ... aus 130 Millionen Einzelzellen. Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, daß die Erregung dieser Zellen durch den äußeren Lichtreiz schon das Bild ergibt, wie die Belichtung der einzelnen Silberkörner in der photographischen Platte. Die lokal auf die Netzhaut eintreffenden Lichteindrücke werden vom Nervensystem total umgearbeitet. Wir sehen ja auch nicht ein Mosaik von verschiedenartigen Flächen - das ist alles, was als Lichteindruck hereinkommt - sondern ganzheitliche Gestalten: ein Haus, ein Buch, eine runde Vase. ...

Viele Sinnesphysiologen sind zu dem Schluß gekommen, daß das Nervensystem tätsächlich in schöpferischer Weise das Bild schafft, das wir sehen.24)

Das hier Zitierte kann nur einen winzigen Ausschnitt von der außerordentlich komplizierten Netzhaut verdeutlichen. Der an weiteren Einzelheiten interessierte Leser sei auf die umfangreiche z.T. neueste Literatur zur Forschung über das Auge, u.a. zu Struktur und Funktion der Netzhaut verwiesen (vgl. Literaturverzeichnis).

Empirische Unterlagen für eine Transformation eines einfacheren in ein komplexeres System als gesichertes Ergebnis mutationstheoretischer Forschung liegen nicht vor.

(5) "glasiger runder Körper" - die Frage nach der Entstehung der Linse. E. Shute (S:) kommentiert 1961, pp. 130/131, recht originell den Evolutionstheoretiker G.L. Walls (W:).

(W:) "Die Entstehung der Linse ist das geheimnisvollste Geschehen in der ganzen Evolution des Wirbeltierauges. Es ist nicht möglich zu sagen warum, wann und wie sie entstand oder wie sie es fertigbrachte, in die Augenblase, die aus der Anlage des Zwischenhirns entsteht, hineinzugelangen." (S:) "Auf irgendeine unerklärliche Weise entwickelte sie ihr Brechungsvermögen (focussing power). In ihrer frühen Entwicklung wird sie von Hautschichten abgelöst und fällt in den Augenbrecher, lange bevor die Hirnhäute gebildet werden." (W:) "Wir uns daher vorstellen, daß im Embryo irgendeines entscheidenden frühen Wirbeltiers die Linse es als reine Zufallsmutation fertig brachte, diese viel günstigere Position durch einen Sprung auf (a jump on) die Hirnhäute zu erreichen. Sie hat sich seitdem immer daran erinnert, in ihrer Entwicklung früh zu beginnen° ... Ein Glück, daß das Wirbeltierauge sich zufällig gerade zu einer Hohlkugel mit einer festen Außenhaut entwickelte ... Es war dadurch imstande, die erforderliche Stabilität zu garantieren, die für die korrekte optische Lage der Linse und der Netzhaut notwendig ist;" (S:) "Als wäre sie ein kleiner Basketball. Um die Linse vorn zu halten, entwickelten sich zwei Flüssigkeiten im Auge, die Gallerte, die die hintere Augenkammer ausfüllt, um die Linse, wie beim Neunauge, vorn zu halten (the jelly at the back holding the lens forward, as in the lamprey). Das Auge mußte beweglicher werden und "befahl" daher angrenzende paarige Muskelmassen "in den Dienst". Das sind schöne Beispiele dafür, wie der Evolutionist Wörter befiehlt, um das Unerklärliche zu erklären. Ein Loch bildet sich in der Iris, weil die letztere Pigmente entwickelt. Wenn das keine Erklärung ist! Fische akkomodieren, indem sie die Linse nach vorn oder hinten bewegen, aber sie gebrauchen dafür verschiedene Mechanismen, (W:) "und niemand kann sagen, welche dieser Bildungen die primitivste ist." (S:) "Rhodopsin oder Sehpurpur wurde von vielen Tiergruppen "erfunden" und "wiedererfunden", sagt Walls.25)

Entwicklung des Auges bei der Maus. Nach Schaffer aus Wurmbach 1970, p. 522

°Walls hat das ähnlich 1942/1963, p. 133 formuliert: "All that is needed is a nice timing of embryological events, occurring as an embryonic mutation - if the lens did pass through the dura mater to get inside the eye-ball, it assuredly did so in one jump, in same ancient embryo in which the condensation of the dura happened to be delayed. And lenses have been getting inside of eyes ontogenetically in that same way ever since."

Der bedeutende Zoologe A. Portmann stellt zu diesen Fragen lapidar fest (1969, p.161):

Da wir das Wirbeltierauge bereits auf der einfachsten Organisationsstufe der Neunaugen voll entwickelt vorfinden, bei der niedrigen Formstufe des Amphioxus aber keine Spur von Lateralaugen treffen, so läßt sich die frühe Evolution dieses so wichtigen Sinnesorgans nicht verfolgen. Alle Versuche, aus einzelnen ontogenetischen Stadien Etappen dieser Entwicklung zu konstruieren, sind rein spekulativ und führten noch nicht zu einer Auffassung, die weitere Anerkennung gefunden hätte.26)

Die Linsenbildung ist in der Ontogenese in ein kompliziertes Netzwerk von Wechselbeziehungen eingebettet. Die einzelnen Strukturen arbeiten in gegenseitiger Bedingung (Induktion und Rückkopplung) gezielt aufeinander zu. Man möchte von einer Symphonie des Werdens sprechen.

Induktions- und Differenzierungsmuster des Wirbeltierauges (nach Coulombre aus Riedl 1975; von Riedl vereinfacht); Ellipsen: embryonale Blasteme; Rechtecke: die definitiven Gewebe; schwarze Pfeile: die Bahnen der Differenzierung; weiße Pfeile: Induktoren.

Angesichts dieser fein aufeinander abgestimmten Wechselwirkungen verwundert die Bemerkung Langmans (1972, p. 330): "Im Experiment hat sich die Augenanlage als eines der empfindlichsten Organe der embryonalen Entwicklung erwiesen." - nicht im Geringsten.

Der hier zitierte R. Riedl hat in letzter Zeit versucht, eine Art erweiterten Neodarwinismus zu begründen, indem er einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Konstitution "stammesgeschichtlich" einfacherer Formen und daraus abgeleiteten komplizierten Stadien sieht, eine Entwicklung wäre danach in vieler Hinsicht determiniert. Die Bildung neuer Gene durch Mutationen wird dabei vorausgesetzt. Empirische Belege dafür fehlen.27)

(7) Primitive Akkomodation auf Nah und Fern

(8) Adaptation an Hell und Dunkel

(9) Irisblende

Über jeden dieser Punkte ließe sich eine Spezialarbeit anfertigen. Selbst 'einfachste' Akkomodation und Adaptation setzen spezielle und koordinierte Strukturen als Bestandteile kybernetischer Systeme voraus. Die Irisblende ist ein Meisterwerk biologischer Regeltechnik mit einem Steuersystem im Gehirn (pupillomotorisches Zentrum) mit Meßgliedern (Fotorezeptoren) in der Netzhaut u.a.m.

(Aus H. Feneis 1974, p. 325)28)

Soll dieses architektonische und zugleich hochempfindliche kybernetische Meisterwerk das Ergebnis zufälliger Abänderungen eines Erbgutes sein, das anfangs keinerlei Information für die Bildung dieser Strukturen besaß?

Zufallsmutationen - Punkt (6) und (10) - für die Entstehung dieser Strukturen und Fähigkeiten, selbst auf ihren "primitivsten" Stufen, sind in keinem Falle nachgewiesen. Über die Frage nach der Wahrscheinlichkeit durch sukzessive kleine Schritte vgl. pp. 5 -20.

Wir haben es damit bei der Anwendung der Mutationstheorie für diese Fragen mit einer reinen Pseudo-Erklärung zu tun, die an den Wert eines gesicherten Ergebnisses wissenschaftlicher Forschung in keiner Weise heranreicht.

Prof. R. Nachtwey hat den Erklärungsmechanismus des Darwinismus einmal stereotyp so parodiert (das ist zwar nicht jedermanns Geschmack, schon gar nicht der der Darwinisten, aber inhaltlich völlig korrekt):

Die Theorie sagt nur, daß etwas im Daseinskampf übriggeblieben ist, aber auf unsere Frage, wie dieses Etwas denn eigentlich entstanden ist, hat sie stets nur die eine Antwort: "Durch eine zufällige erbliche Abänderung!" Man muß die Darwinsche Formel einmal auf verwickelt gebaute Organe, wie etwa das menschliche Auge und auf den Sehvorgang anwenden, um die ganze Leere und Hohlheit einer solchen Anschauung zu begreifen:

"Wie entstand die durchsichtige und gekrümmte Hornhaut des Auges?" - "Wer zufällig so abänderte, der blieb im Daseinskampf übrig!"

"Wie entstand die Linse mit ihren Einrichtungen, ihrem Anpassungsvermögen an Nähe und Ferne?" - "Wer zufällig so abänderte, der blieb übrig!".

"Wie entstand die Netzhaut, die auf einem einzigen Quadratmillimeter 100 000 bis 180 000 lichtempfindliche Stäbchen oder Zapfen trägt?" - "Wer zufällig so abänderte, der blieb übrig!"

"Wie kommt es, daß die Stäbchen auf den Reiz des weißen Lichtes reagieren, die Zäpfchen aber auf das farbige Licht?" - "Wer zufällig so abänderte, der blieb übrig!"

"Wie entstand die Pigmenthaut, die ihren schwarzen Farbstoff in winzige Fortsätze zwischen Stäbchen und Zapfen entsendet und damit Bildschärfe erzeugt?" - "Wer zufällig so abänderte, der blieb übrig!"

"Wie entstand die Aderhaut, die mit zahllosen feinen Blutgefäßen die Ernährung der Netzhaut übernimmt?" - "Wer zufällig so abänderte, der blieb übrig!"

"Wie entstand der Sehnerv mit seiner merkwürdigen Fähigkeit, einen schnellen Nervenstrom zu erzeugen, sobald die Stäbchen oder Zapfen von den elektromagnetischen Wellen getroffen werden, die wir 'Licht' nennen?" - "Wer zufällig so abänderte, der blieb übrig!"

"Wie entstand die merkwürdige Fähigkeit unserer Großhirnrinde, die Sehnervenströme in bewußte Lichtempfindungen umzuwandeln?" - "Wer zufällig so abänderte, der blieb übrig!"

"Wie ist es möglich, daß verschiedene Wellenlängen des Lichtes in unserem Bewußtsein total verschiedenartige Farbenempfindungen auslösen?" - "Wer zufällig so abänderte, der blieb übrig!"

"Wie entstand denn überhaupt das Bewußtsein?" - "Wer zufällig so abänderte, der blieb übrig!"

Ja wirklich, man sollte es nicht für möglich halten, aber der Darwinismus hat für alle Fragen nach der Organbildung und ebenso für alle tiefsten genetischen Probleme der Biologie und Psychologie nur eine einzige schematische, formelhafte Antwort, die jedes tiefere Nachdenken erspart."29)

Mit den von der Mutationstheorie praktizierten Methoden kann man mit lauter zufälligen kleinen Abänderungen ebensogut eine vollautomatische elektronische Kamera von einer Lochkamera ableiten. Man kann sich das in allen Einzelheiten erarbeiten und dann schließlich die Vorstellungsmöglichkeiten, das Modell, in den Rang eines gesicherten Ergebnisses naturwissenschaftlicher Forschung erheben. Nur muss man sich dann auch gefallen lassen, dass das Fundament der ganzen Anschauung, nämlich die zufälligen kleinen Abänderungen, als brüchig erkannt wird (weil sie nun einmal als positive, völlig neue Strukturen und Systeme aufbauende Mutationen nicht nachgewiesen werden können) und damit das ganze schöne Kartenhaus für die Frage nach dem tatsächlichen Geschehen auf unserer Welt zusammenstürzt! Denn wo nichts mehr zu sieben ist, helfen auch die günstigsten Selektionsbedingungen nicht weiter.

Hier muss noch angemerkt werden, dass für den Menschen eine Vervollkommnung der optischen Geräte für seine Zwecke gewissermaßen als Selektionsdruck betrachtet werden kann, ein solcher in der Natur aber insofern nicht gegeben ist als für 'primitive' Tiere mit 'primitiven' Lichtsinnesorganen gar kein Anlass besteht, besser sehen zu wollen (Beispiel: Regenwurm), da sie zur Bewältigung ihrer Umwelt bereits vollkommen angepasst sind. J. von Uexküll hat das einmal folgendermaßen veranschaulicht:

Man sah in der Tierreihe den Beweis für eine stufenweise ansteigende Vervollkommnung von der einfachsten zur mannigfaltigsten Struktur. Nur leider vergaß man dabei das eine, daß die Vollkommenheit der Struktur gar nicht aus ihrer Mannigfaltigkeit erschlossen werden kann. Kein Mensch wird behaupten, daß ein Panzerschiff vollkommener sei als die modernen Ruderboote der internationalen Ruderklubs. Auch würde ein Panzerschiff bei einer Ruderregatta eine klägliche Rolle spielen. Ebenso würde ein Pferd die Rolle eines Regenwurms nur sehr unvollkommen ausfüllen.30)

Auf die Lichtsinnesorgane übertragen heißt das: Ein Regenwurm mit allen Strukturen eines perfekten Pferdeauges sähe beim Wühlen auch nicht mehr als vorher mit seinen einzelnen verstreuten Lichtsinneszellen in der Epidermis.


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