voriges Kapitel - zum Inhaltsverzeichnis - nächstes Kapitel

 

KLAUS WITTLICH: VORBEMERKUNGEN ZUR FALSIFIKATIONSFRAGE 1998

 

Vorab möchte ich eine kleine Einführung geben, wie Wissenschaftler arbeiten (sollten). Im folgenden mache ich keinen Unterschied zwischen einer Theorie und einer Hypothese. Logisch gesehen gibt es keinen Unterschied. Das Ziel der Wissenschaft ist es, vereinfacht gesagt, Daten zu sammeln, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen und Zusammenhänge zu klären. Man setzt zunächst einmal gar nichts voraus und sammelt seine Daten oder Fakten. [Dieses Sammeln geschieht natürlich aufgrund des Scharfsinns, der bisherigen Erfahrungswerte sowie der Möglichkeiten und Grenzen der Theorienbildung eines Forschers.*] Die Vorgehensweise lässt sich am besten veranschaulichen mit einem Arzt, der einen Patienten untersucht. Der Arzt sammelt Beobachtungswerte über den Patienten, z.B. gerötete Augen, Konzentrationsschwäche, Kopfschmerzen, Unwohlsein,... Der Arzt macht nun für seine Beobachtungswerte einen ersten Erklärungsversuch. In der Medizin nennt man diesen Erklärungsversuch Diagnose. Eine Diagnose ist ihrem Wesen nach nichts weiter als eine Theorie. Eine Theorie ist, auch wenn das vielleicht etwas provozierend klingt, zunächst ein Rateversuch, die vorhandenen Fakten zu erklären. Nun sind der Phantasie, was die Möglichkeiten der Rateversuche betrifft, kaum Grenzen gesetzt. Eine Theorie ist daher nicht irgend ein Rateversuch, sondern ein sinnvoller Rateversuch, ähnlich wie eine medizinische Diagnose auch nicht irgend ein willkürlicher Rateversuch ist. Die Kriterien für sinnvoll sind natürlich nicht dem Gutdünken des Einzelnen überlassen, sondern schon etwas besser zu fassen:

1. Die Theorie muss mit allen bekannten Fakten übereinstimmen. (Sonst handelt es sich um eine falsche Theorie. Keine Theorie ist sicher vor unerwarteten neuen Fakten.)

2. Sie muss die bekannten Fakten erklären.

3. Sie muss überprüfbare (nicht irgendwelche beliebigen) Aussagen/Vorhersagen machen. (X könnte man beobachten, Y hingegen nicht.)

4. Sie muss Kriterien nennen, wie man es erkennen könnte, wenn sie ein falscher Rateversuch ist (Falsifikationskriterien).

3. und 4. ergänzen sich und sind nicht unabhängig voneinander.

Ich möchte das an Hand von etwas konkreten Beispielen erläutern.

Beispiel für eine sinnvolle Theorie: "Der Patient leidet an Influenza epidemica (Grippe)". Typisch für Grippe ist eine erhöhte Temperatur, eine Aussage, die sich aus der Theorie ergibt, bisher aber nicht beobachtet wurde (man hat bis dahin noch kein Fieber gemessen), deren beobachtbare Vorhersage ausbleibt, wenn die Theorie falsch ist, aber beobachtet werden kann, wenn die Theorie richtig ist. (Oder wenn die Theorie falsch ist, jedoch andere Ursachen wie bestimmte Vergiftungen zu erhöhter Temperatur führen. In diesem Fall würde die Falschheit der Theorie durch einfaches Temperaturmessen nicht erkannt werden.) Die Aussage der erhöhten Temperatur ist ein Falsifikationskriterium für die Theorie. Weiteres Beispiel für eine sinnvolle Theorie: "Oh nä, de arm Kärl hät ene Gripp. Bestimmt hät de och Fieber un muss ins Bät." (Es handelt sich hierbei um dieselbe Theorie, jedoch ohne wissenschaftlichen Sprachgebrauch formuliert).

Die Theorie der Grippe ist nicht bewiesen. Man kann die gleichen Symptome durch 36 Stunden ohne Schlaf auch erreichen. Beide Theorien (Grippe und zuwenig Schlaf) machen aber in Bezug auf die Temperaturmessung unterschiedliche Vorhersagen. Wird die Temperatur gemessen, so ist eine der Theorien falsifiziert (widerlegt), die andere damit aber noch nicht bewiesen, da ja auch andere Ursachen wie Vergiftungen oder andere Krankheiten möglich sind.

Weiteres Beispiel: "Der Patient leidet an irgendeiner Intoxikation (Vergiftung)". Intoxikation klingt zwar sehr wissenschaftlich, aber um eine Theorie handelt es sich nicht. Bei der Unmenge an Vergiftungsmöglichkeiten und -symptomen, manche Giffe sind nicht einmal in geringer Konzentration nachweisbar, wird keine überprüfbare Aussage gemacht, z.B. darüber, ob der Patient überhöhte Temperatur hat, ob er überleben wird, wann die Symptome abklingen werden etc. Alles, was man beobachten könnte (oder auch nicht), passt in das Muster "irgend eine Intoxikation". (Anders verhielte es sich bei der Aussage über eine bestimmte Vergiftung mit wohldefinierten Symptomen.) Dieses Beispiel zeigt, wie man durch Verwendung eines wissenschaftlich klingenden Sprachgebrauchs etwas als wissenschaftliche Theorie suggerieren kann, was gar nicht eine solche ist.

Letztes Beispiel: "Der Teufel zahlt ihm seine Sünden heim." Ich überlasse dem Leser den Nachweis, dass es sich hierbei nicht um eine Theorie handelt, als Übung. (Tip: Dass der Teufel eine metaphysische Größe ist, ist nicht das Problem.)

Typische Beispiele für Aussagensysteme, die keine Falsifikationskriterien aufweisen, sind Dogmen. Diese sind unabhängig von gegenwärtigen und zukünftigen Faktenlagen als wahr anzunehmen.

An dieser Stelle mag der Leser eine naheliegende und berechtigte Frage stellen: "Warum nimmt man als Kriterium dazu, ob etwas als eine Theorie gilt oder nicht, so etwas nicht ganz leicht Einzusehendes wie ein Falsifikationskriterium und nicht statt dessen ganz einfach den Beweis der Richtigkeit (Verifikation) der Aussage?". Die Antwort ist, man kann meistens nichts wirklich beweisen. Um dennoch Aussagen machen zu können, muss man zu Kriterien wie dem Falsifikationskriterium greifen. Ich erkläre das an Hand des Beispiels des Gravitationsgesetzes. Das Gravitationsgesetz besagt, vereinfacht gesprochen, dass zwischen allen Materieklumpen im Universum zu allen Zeiten die Schwerkraft wirkt(e) und wirken wird. Um das wirklich zu beweisen, müsste man nachprüfen, dass im Jahre 1403 die Schwerkraft zwischen den Felsbrocken des Mars gewirkt hat und diese keine Ausnahme bildeten; man müsste beweisen, dass die Schwerkraft zwischen meinem Auto und meinem Kugelschreiber aktiv ist, ... Man müsste beweisen, dass es einfach keine Ausnahmen gibt. Die einzige Möglichkeit ist, die Gravitationswechselwirkung ständig für alle Paare von Objekten im Universum zu überwachen. Es gibt zu viele Dinge, die man für einen wirklichen Beweis der Richtigkeit untersuchen müsste. Man müsste in der Vergangenheit nachmessen, was wirklich geschah. Das sind natürlich rein praktische Unmöglichkeiten. Das einzige, was man machen kann, ist stichprobenartig die Schwerkraft zwischen einigen wenigen Objekten zu untersuchen und von diesen wenigen Daten eine Theorie aufzubauen in der Hoffnung, dass sich der Rest des Universums gemäß dieser Theorie verhält. Man könnte wegen der Fülle der zu untersuchenden Objekte rein praktisch niemals beweisen, dass die Theorie stimmt, man könnte aber schon bei Vorhandensein eines einzigen Gegenbeispiels (Auftauchen neuer, ungeahnter Fakten) beweisen, dass die Theorie falsch ist.

Noch ein Wort zur Vorsicht. Wenn in Anbetracht dessen jemand bei dieser Beweisnot (für wissenschaftliche Theorien) die Aussage macht, die Theorie sei bewiesen, dann ist das meist ein ernst zu nehmender Hinweis auf Ahnungslosigkeit, Manipulation oder Selbsttäuschung.

Ein subtiler Mechanismus der Selbsttäuschung ist der Zirkelschluss. Ein korrekter Beweis hat folgenden Aufbau: Man hat eine Menge (gesicherter) Voraussetzungen, von denen man ausgeht, eine "Logik", das ist eine Menge von Folgerungsregeln, nach denen man Schlüsse ziehen darf und eine oder mehrere Behauptungen, die bewiesen werden sollen. Die Behauptungen sind bewiesen, wenn man zu ihnen, von den Voraussetzungen ausgehend, unter Anwendungen der logischen Regeln, gelangt. (Anmerkung: Es gibt nicht "die" Logik. Z.B. bedienen sich Mathematiker, Naturwissenschaftler, Historiker und Juristen jeweils unterschiedlicher Regelsystemen (Logiken), nach denen sie ihre Schlüsse ziehen.) Wichtig ist bei einer Beweisführung, dass die Behauptungen, die man beweisen will, nicht in der Liste der (gesicherten) Voraussetzungen erscheinen. Sonst wären sie ja bereits gesichert und müssten nicht extra bewiesen werden. (Schein-)beweise, bei denen die zu beweisenden Behauptungen bereits als richtig vorausgesetzt werden, nennt man Zirkelschlüsse. Man landet bei einem Zirkelschluss wieder bei der Voraussetzung und hat sich damit logisch im Kreis (Zirkel) gedreht. Zirkeischlüsse beweisen nichts. Sie beweisen weder die Richtigkeit einer Behauptung noch widerlegen sie sie. Eine Möglichkeit, nicht versehentlich ein Opfer von Zirkelschlüssen zu werden, ist einfach, auf Papier eine Liste der Voraussetzungen aufzuschreiben, auf einem anderen Blatt die Liste der zu beweisenden Behauptung(en) und auf (notfalls zahllosen) anderen Blättern (je nach Länge des Beweises) die Folgerungen, die schließlich zu den Behauptungen führen.

Zirkelschlüsse sind nicht immer leicht zu erkennen. Manche sind harmlos, Beispiel: Warum bleibt der Teppich auf dem Fußboden? Weil die Schwerkraft wirkt. (Voraussetzung: Schwerkraft wirkt. Folgerung: Teppich bleibt auf Fußboden.) Woher wissen wir, dass die Schwerkraft wirkt? Weil der Teppich auf dem Fußboden bleibt. (Voraussetzung: Teppich bleibt auf Fußboden. Folgerung: Schwerkraft wirkt.) Die gesamte Folgerungskette hat die Gestalt: Schwerkraft wirkt -> Teppich bleibt auf Fußboden -> Schwerkraft wirkt. Man ist beweistechnisch wieder bei der Voraussetzung angelangt und hat damit mit der gesamten Argumentation nichts bewiesen. (Obwohl die Theorie der Schwerkraft bestimmt richtig ist.) Zirkelschlüsse können auch über mehrere Ecken gehen: A -> B -> C -> D -> A.

Noch ein Beispiel mit leicht historischem Charakter. "Unser Bischof ist ein ehrlicher Mann. Unser Bischof sagt, Barbara sei eine Hexe." "Wenn Barbara eine Hexe ist, dann ist sie ein moralisch verwerfliches Subjekt." "Barbara sagt, sie sei keine Hexe." "Barbara sagt also, unser Bischof hat nicht die Wahrheit gesagt. Sie bestreitet, dass der Bischof ein ehrlicher Mann ist. Eine anständige Frau würde so etwas nie tun. Das beweist ihre schwere Schuld." Neben einem Zirkelschluss weist dieses letzte Beispiel auch noch auf eine andere Gefahr hin. Es wurde nicht festgelegt, ob "Unser Bischof ist ein ehrlicher Mann" als Dogma ohne wenn und aber aufzufassen ist oder als Theorie mit Falsifikationskriterien. Im letzteren Fall wäre ein eingehendes Testen der Theorie "Unser Bischof ist ein ehrlicher Mann" angebracht gewesen um so die Verurteilung von Unschuldigen zu vermeiden. Dieses Beispiel und Herr Poppenbergs Film[e] zeigen, welche tödlichen Konsequenzen schlechte Logik haben können. Daher kann man, denke ich, nicht entschieden genug gegen Scheinbeweise wie Zirkelschlüsse und fehlende Falsifikationskriterien bei Aussagensystemen vorgehen.

Nachdem wir Theorien, Scheintheorien (Theorien, die nichts Überprüfbares aussagen, sondern immer zutreffen) und Zirkelschlüsse betrachtet haben, lohnt es sich, dieses Wissen für die Evolutions-/Intelligent-Design-Debatte einzusetzen, um nicht versehentlich auf den Holzweg zu geraten. Sowohl auf der Seite der Evolutionisten als auch auf der Seite der Intelligent-Design-Theoretiker gibt es echte Wissenschaftler und Dogmatiker.

Abschließend noch einige durchaus provokante Übungen. Diese sollen helfen, wissenschafiliches Arbeiten von Glauben zu unterscheiden.

1. Die Evolutionstheorie ist eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache.

2. Gott [oder: die Evolution] hat die Lebewesen so gemacht wie sie sind.

3. Alle Lebensformen können durch die Evolutionstheorie vollständig erklärt werden.

4. Intelligenz ist notwendige Voraussetzung für die Entstehung der Lebewesen.

 

Lösungshinweise

1. Mit diesem Problem verhält es sich ähnlich wie mit der Gravitation. Es müsste für jede Lebensform gezeigt werden, dass sie das Resultat von Mutation und Selektion ist. Insbesondere müsste gezeigt werden, dass die bislang unentdeckten Lebensformen ebenfalls das Resultat der Evolution sind. Bei dem Beweis darf die Evolution aber nicht bereits als gegeben vorausgesetzt werden (Zirkelschluss). Also, wenn jemand den Beweis hat, ich würde ihn gerne sehen. Dem ersten, der ihn mir zeigt, gebe ich 1000 DM [511,29 Euro].

2. Keine Theorie. Was immer man findet, es fügt sich in die Aussage ein. "Ach, so hat er es gemacht!" [Oder: "Ach so hat die Evolution das gemacht."] Bei solchen Scheintheorien spricht man auch von Lückenbüßern. "Gott" [oder: die Evolution] ist hier der Lückenbüßer. Er [Sie] muss als Erklärung für alles herhalten. Lückenbüßer sind wissenschaftlich natürlich nicht sinnvoll; sie führen zu keinen neuen Erkenntnissen. [Nur als Glaubensaussagen haben beide Betrachtungsweisen ihre Berechtigung.]

3. Man befindet sich hier in einer Grauzone. Angenommen, man findet eine Form**, die durch die Evolutionstheorie nicht erklärt werden kann. Dann hat man zwei Möglichkeiten. a) Man verwirft die Theorie als falsch (womit es sich dann um eine falsifizierbare Theorie handelt) und b) man vertröstet darauf, dass man die Erklärung noch finden wird. Im Fall b) sind die nicht gefundenen Erklärungen die Lückenbüßer. Wenn man im Fall von Nichterklärbarkeit Strategie b) wählt, um die Theorie zu retten, dann bedient man sich wie in Übung 2 der Lückenbüßer und hat die wissenschaftliche Arbeitsweise verlassen. Darwin meinte dazu sinngemäß: Sollte es eine Struktur geben, die nicht durch Mutation und Selektion erklärt werden könnte, dann müsste man meine Theorie unbedingt als falsch zurückweisen.

4. Kann prinzipiell falsifiziert werden, es handelt sich um eine Theorie. Man nehme eine geeignete Konfiguration von lebloser Materie und verhindere alles Eingreifen von Intelligenz. Wenn anschließend etwas entsteht, was lebt, dann ist die Theorie falsifiziert. (Solange das noch nicht geschehen ist, ist die Theorie nicht falsifiziert.)

_______

*Anmerkungen in eckigen Klammern von W.-E.L. [Und direkt noch zu dem von Klaus Wittlich angesprochenen Punkt ein Wort von Max Planck: "Ein Forscher, der sich bei seinen Arbeiten nicht von irgendeiner Hypothese leiten lässt, sei sie auch noch so vorsichtig und provisorisch gefasst als nur möglich, verzichtet von vornherein auf ein tieferes Verständnis seiner eigenen Resultate." Aber was die Ergebnisse der Untersuchung betrifft, sollte der Forscher zunächst einmal tatsächlich gar nichts voraussetzen: das ist hier gemeint - es sei denn "ein Genie kennt die Antwort noch vor der Fragestellung".]

[**Bei "einer Form" könnte man die Frage vielleicht noch offenlassen, auch wenn dadurch bereits der erste Schritt zu einer Relativierung einer Theorie mit dem Anspruch, "jede bekannte Lebensform zu erklären", getan ist. Wie verhält es sich aber, wenn man ganze (und umfassende) Kategorien von Formen und Phänomenen findet, die durch die Synthetische Evolutionstheorie nicht erklärt werden können? Bei der Utricularia-Diskussion z.B. bemerkt mein Kontrahent: "Dabei ließe sich die Problematik an einer Unzahl anderer Beispiele diskutieren; Junker und Scherer haben dies in ihrem Buch "Evolution - ein kritisches Lehrbuch" anhand des Fortbewegungsapparates von E.coli und der Fangfalle Nepenthes dargelegt." - Worauf ich geantwortet habe: "Es ist völlig richtig, dass man die Problematik auch "an einer Unzahl anderer Beispiele diskutieren" kann (womit Herr A. selbst das ganze Ausmaß der Problematik erkannt hat und impliziert, dass Utricularia nicht etwa nur einen aus dem Rahmen fallenden Spezialfall bildet.)" - Dieses Beispiel steht also für die gesamte Kategorie komplexer Synorganisationen, d.h. einer 'Unzahl' von biologischen Phänomenen, die vom Neodarwinismus nicht befriedigend erklärt wird.]

 


voriges Kapitel - zum Inhaltsverzeichnis - nächstes Kapitel
Internet address of this document: internetlibrary.html
© 2002 by Wolf-Ekkehard Lönnig - loennig@mpiz-koeln.mpg.de
Disclaimer